Donnerstag, 30. Dezember 2010

Brandenburger Tor

Das Brandenburger Tor ist ein Gradmesser, ein Seismograph für deutsche Befindlichkeiten. Die dortige Silvesterfeier 1989/1990 erging sich in Euphorie, die Silvesterfeier im Jahr darauf in Depression, bis sich die Stimmung langsam in einer Mittellage einpendelte. Ohne das Brandenburger Tor wäre Berlin kaum vorstellbar. Es ist beinahe gar kein Gebäude mehr, sondern eine Stadtikone, die in unausdenkbar vielen Variationen durch die Stadt geistert. Das Bauwerk ist ein Logo geworden. Es bedeckt in Kleinformat die Fenster der Berliner U-Bahnen, ziert rot auf gelbem Grund sehr stilisiert die Schnauze der Berliner Busse, es findet sich verformt mit bunten, herausgelösten, flott hingetuschten Säulen über die ganze Stadt verteilt, sogar gusseisern auf Gullideckeln. Junge Akrobaten studieren im Schul-Zirkus die Nummer Brandenburger Tor ein - die Pfeiler aus aufrechtstehenden, die Attika aus darübergelegten Körpern. Die größten Triumphe der Nachbildung feiert es allerdings in den Touristenläden Unter den Linden. In Regalen, die selbst auch das Brandenburger Tor nachbilden, finden sich Teller, Trinkgefäße aller Art, von Zinnhumpen, über Keramikbecher bis hin zu geschliffenen Gläsern, vergoldete Schmuckanhänger, Aschenbecher, Porzellanglocken, Pergamentrollennachbildungen aus einem undefinierbaren Material, Pillendöschen und Fingerhüte, Porzellansenftöpfchen, Briefbeschwerer und Schneekugeln, batterieweise in allen Größen, die das Brandenburger Tor ab- und nachbilden. Es schneit wunderschön in diesen Kugeln, weiß und grünglitzernd.
Vor den Geschäften steht ein Prägeautomat und verwandelt das Eichenblatt des 2-Cent- oder 5-Cent-Stücks in ein Brandenburger Tor, damit die Kupfermünzen den 10-, 20- und 50-Centmünzen ähnlicher werden. Vor dem Brandenburger Tor selbst, dessen reale, physische Existenz man nach den vielen Devotionalien kaum noch glauben kann, ballen sich dann karnevaleske Geschichtskürzel: ein Vopo posiert neben einem amerikanischen GI, ein Berliner Bär neben einem Indianer, ein NVA-Mann neben einem futuristischen Ritter-Monster, während Bürgerrechtsgruppen aus aller Welt oder Tierschützer auf ihre Belange hinweisen.

Das Brandenburger Tor kennt jeder. Seinen Erbauer aber kennen nur wenige. Der Architekt Carl Gotthard Langhans, der beileibe nicht nur dieses Wahrzeichen erbaut hat, hat es in Berlin nicht einmal zur Benennung einer Straße gebracht. Anders als die Langhansstraße in Potsdam geht die Langhansstraße in Pankow-Weißensee nämlich nicht auf ihn zurück. Keine Gedenktafel, keine Schulbenennung weist auf ihn hin. Beerdigt wurde er in Breslau-Grüneiche, geboren im schlesischen Landeshut. Viele Bauwerke schuf er in Schlesien, viele in Berlin und Umgebung. Aber schon im 19. Jahrhundert wurde sein Name von Schinkels Namen verdunkelt. Das ist schade. Denn Langhans' Werk markiert die Schnittstelle zwischen Barock und Klassizismus. Es ist so mannigfaltig, dass es wieder entdeckt werden sollte. Das Buch macht sich auf diese Reise.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Silesia cantat

Wie sagte ein aus dem Erzgebirge stammender Freund spöttisch, nachdem er das Weihnachtslied »wann das Rachermandel nabelt« (also: wenn das Räuchermännchen nebelt) zum Besten gegeben hatte? Gebirgsgegenden sind immer weihnachtsverdächtig. Das galt in hohem Maße auch für Schlesien. Immer wieder Berge, viel Gemüt, viel Brauchtum. Meine Mutter erzählt aus ihrem Dorf in Mittelschlesien, dass es dort üblich gewesen sei, in der Dämmerstunde des Heiligen Abends auf die Felder zu gehen und das Christkind mit der Flinte vom Himmel zu schießen.

Der gesangliche Höhepunkt des Weihnachtsabends in unserer Familie im Ruhrgebiet bestand, nachdem alle üblichen bekannten Weihnachtslieder gesungen worden waren, im Anstimmen zweier Lieder aus Schlesien. Einmal eine Vertonung des Eichendorff-Gedichts »Markt und Straßen stehn verlassen«, an dem mich die Perspektive des einsam durch die verschneiten Straßen einer Stadt stapfenden Wanderers stets begeisterte, an den Fenstern haben Frauen buntes Spielzeug fromm geschmückt, eines Wanderes, der dann die Stadtmauern verließ, tausend Kindlein stehn und schauen, sind so wunderstill beglückt, um in des Schnees Einsamkeit der Felder das wahre Geheimnis dieser gnadenreichen Zeit zu erfahren, während von draußen der Regen eines atlantischen Tiefausläufers an die Fenster schlug.

Und zum anderen das Lied »O du heilige, stille Nacht«, überliefert von meiner Großmutter aus dem Hultschiner Ländchen, ein Weihnachtslied, das so süßlich und alt-österreichisch klang, als entstammten die Jubelchöre der Weihnachtsengel mit ihren tremolierenden Girlanden direkt den katholischen Kirchenchören von Zauditz und Tröm. So sehr man sich auch dagegen wehrte: diese beiden Weihnachtslieder sprachen immer wieder das Gemüt an. Bevor dieses aber übermächtig werden konnte, belustigte uns der unglaublich pragmatische Realitätsgehalt eines bekannteren Weihnachtsliedes aus Oberschlesien, »Auf dem Berge, da wehet der Wind«, wenn es in dem Dialog zwischen Maria und Joseph heißt: »Ach, Joseph, lieber Joseph mein, ach hilf mir doch wiegen mein Kindelein!« »Wie soll ich dir helfen dein Kindlein wieg'n? Ich kann ja kaum selber die Finger bieg'n.« Um diesen Konflikt in ein zahnlos-süßliches »Schumschei, schumschei« einmünden zu lassen.

Kirchenchöre in Berlin und andernorts singen zur Weihnachtszeit immer wieder gerne Werke des Organisten und Kirchenmusikers Carl Thiel, der 1862 im schlesischen Klein-Öls geboren wurde, in Berlin wirkte und dessen vier- bis fünfstimmigen Chorsätze von »Ich steh an deiner Krippen hier«, »Freu dich, Erd- und Sternenzelt« und »Vom Himmel hoch, ihr Engel kommt« und vor allem »In dulci jubilo« sich großer Beliebtheit erfreuen. Aber der unbestrittene Höhepunkt eines jeden hellen und strahlenden Weihnachtsmorgens ist das »Transeamus«. Der Ursprung dieses Hirtenliedes liegt im Dunkeln, Transeamus usque Bethlehem, vermutlich entstand es aus einem liturgischen Krippenspiel in einem schlesischen Kloster, et videamus hoc verbum quod factum est, wurde dann nach Breslau überliefert und vermutlich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die heute bekannte Form gebracht, Mariam et Joseph et Infantem positum in praesepio, bis dann das Stimmenmaterial des weihnachtlichen Chorwerks von dem letzten deutschen Domkapellmeister Paul Blaschke 1945 aus dem Breslauer Dom nach Westdeutschland gebracht werden konnte, Transeamus et videamus quod factum est.

Das »Transeamus« ist pathetisch und weich zugleich, sein Bass ist großartig und seine Sopranstimmen klingen festlich und hell. Es ist nicht nur weihnachtsverdächtig, es verbreitet eine jubelnde Weihnachtsfreude, die länger nachhallt: Gloria in excelsis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Montag, 20. Dezember 2010

Schlesische Weißwürste

Schlesische Weißwürste waren das traditionelle Essen zu Heiligabend und Silvester in Schlesien. Sie bestehen aus Kalbfleisch, heute auch oft aus Schweinefleisch, sowie aus Schweinespeck, beide Bestandteile extrem fein unter Beigabe von Eis gekuttert, d. h. feiner als mit dem Fleischwolf zerkleinert. Entweder erhitzt man die Würste langsam im Wasser oder brät sie in Butter. Dieses typisch schlesische Heiligabendessen wird zusammen mit Kartoffeln oder Kartoffelbrei und Sauerkraut serviert.

In Berlin und Umgebung gibt es mehrere Fleischereien, die zur Weihnachtszeit schlesische Weißwürste anbieten, so die Neuland-Fleischerei Bachhuber, die Wurstabteilung des Kadewe und andere Fleischereien. Zum Beispiel die Fleischerei Grönke. Sie betreibt das Geschäft heute in dritter Generation, zog von der Bernauer Straße nach dem Zweiten Weltkrieg zum Prenzlauer Berg und von dort im Jahr 2004 nach Hohen Neuendorf ins nördliche Berliner Umland. Die Tradition, jährlich zur Weihnachtszeit schlesische Weißwürste herzustellen, etablierte sich schon vor etlichen Jahrzehnten. Da der Großvater des heutigen Betreibers aus Schlesien stammte, brachte er von dort das Rezept für die Würste mit. Diese werden hier aus Schweinefleisch unter Zusatz von frischem Zitronensaft und frischer Petersilie hergestellt. Ein Teil der Kunden kannte und kennt diese schlesische Weihnachtstradition aus eigener Erfahrung. Aber auch viele Berliner und Brandenburger, denen diese Würste zunächst fremd waren, kauften sie aus Neugierde. Da sie großen Anklang finden, müssen die Würste zur Weihnachtszeit immer vorbestellt werden und sind schnell ausverkauft. Ein Bekannter des Fleischers schlug aufgrund der Beliebtheit der Würste einmal vor, diese immer im Angebot zu führen. Diesen Wunsch musste der Fleischer ihm aber abschlagen: »Nein, schlesische Weißwürste gibt es nur zu Weihnachten. Das ist und bleibt etwas ganz Besonderes.«

Die Fleischerei Ullrich in Tempelhof, ein Familienbetrieb, bietet seit 1967 ganzjährig schlesische Wurstwaren an. Sie führt ständig vier bis fünf verschiedene schlesische Wurstsorten, so u. a. schlesische Wellwurst, schlesische Schinkenkrakauer, Breslauer, und zur Weihnachtszeit natürlich auch schlesische Weißwurst, aus Kalbfleisch hergestellt und mit Zitrone und Petersilie verfeinert. Eigene familiäre Bezüge des heutigen Fleischermeisters zu Schlesien gibt es nicht. Sein Vater hatte jedoch in Wittenberg bei einem schlesischen Fleischer gelernt und danach in verschiedenen Berliner Fleischereien gearbeitet, die von Schlesiern betrieben wurden. Erst dann machte der Vater sich selbstständig und nutzte sein schlesisches Fachwissen, um seinem Geschäft diese besondere Ausrichtung zu geben. Der Sohn führt die Tradition fort. Viele Kunden, die schlesische Wurzeln haben, kaufen bei ihm. Hin und wieder belieferte die Fleischerei Treffen des Schlesierverbandes im Deutschlandhaus mit Wellwurst und anderen schlesischen Spezialitäten. Ein zusätzlicher Wurststand in der Arminius-Markthalle führte zu einer großen Beliebtheit der schlesischen Wurstwaren auch in Berlin-Moabit.

Besonderer Beliebtheit erfreuen sich die schlesischen Blut- und Leberwürste mit dem dazugehörigen Sauerkraut. Die Fleischerei erhielt schon etliche bundesweite Auszeichnungen, vor allem für ihre schlesischen Wurstwaren, mehrfach hintereinander wurde ihr sogar der Titel »Berliner Bratwurstmeister« verliehen. Was sagte mir der Fleischermeister? Nach dem Krieg seien ja fast zwei Drittel aller Berliner Fleischer Schlesier gewesen. Und, wie es unter Fleischern hieß: »Jeder gute Berliner Fleischer kommt aus Schlesien.«

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 16. Dezember 2010

Mohn

Die Bäckerei Hutzelmann in Charlottenburg nennt sich »Schlesische Backstube«. Seit den zwanziger Jahren in Familienbesitz, existiert der Laden in der Wilmersdorfer Straße seit 1957. Der Großvater der heutigen Bäckerin kommt aus der Oppelner Gegend und hat von dort die schlesischen Backrezepte mitgebracht. Die Bäckerei bietet verschiedene Mohnkuchen, preisgekrönte Mohnstollen, Liegnitzer Bomben, schlesischen Butterstreußel in mehreren Variationen und schlesische Quarkpiroggen an. Überhaupt wird viel mit Hefe gebacken. Die Kunden sind zum Teil Berliner Anwohner, zum Teil kommen sie auch von weiter her gezielt in diese Bäckerei, weil sie schlesische Wurzeln oder eine besondere Vorliebe für schlesisches Backwerk haben. Bis in die achtziger Jahre hinein, so erzählt die Bäckerin, sei der Satz »Jeder gute Berliner Bäcker kommt aus Schlesien« zu Recht im Umlauf gewesen. Nun seien sie die einzige Backstube dieser Art in Berlin. Zu ihrer großen Freude habe sie eine Bezugsquelle für Mohn aus der Umgebung von Breslau aufgetan, wo es den guten Blaumohn gibt, der dann in der Backstube nach traditionellem Verfahren lange in einem großen Kessel gebrüht wird. Man schmeckt es.

Mohnklöße bilden zum traditionellen schlesischen Weihnachts- und Silvesteressen den Nachtisch. Sie bestehen aus Mohn, eingeweichten Brötchen, Mandeln und Rosinen in süßer Milch. Ein Schuss Rum nimmt dem Gericht das Klebrige und macht es pfiffiger. Dem berühmten, aus Breslau stammenden Theaterkritiker Alfred Kerr, der 1887 von Schlesien nach Berlin ging und sich dort wie ein Fisch im Wasser tummelte, fehlten in der deutschen Hauptstadt zu seinem Vollglück nur zwei Dinge, derer er sich mit Wehmut erinnert: Bauerbissen, also eine Art großer Pfefferkuchen, und schlesische Mohnklöße:
»Bauerbissen, sicher der erdgerüchigste aller Pfefferkuchen, den man in Schlesien für einen Sechser pfundweise fröhlich aß, er lässt sich nicht aus der Erde stampfen. Verschollen sind die Tage, wo uns die Kinnbacken schmerzten, vom vielen Kauen des frischen, weichen Zeugs. Bauerbissen, du bist ein Mythus, du lächelst herüber aus der Geisterwelt, grüßend und dich neigend und einsam verschwindend. Bauerbissen, du bist die Vergänglichkeit. Bauerbissen, du bist die Ahnung des ersten grauen Haars. Bauerbissen, nie werde ich dich wieder so fressen (es muss heraus, das schändliche Wort) wie einst im Dezember. Bauerbissen, was hier unter deinem Namen verschleißt wird, ist altes Leder. Die Zähne bricht man sich aus; und es schmeckt nach Wichse.«

Gedenktafel für Alfred Kerr am Haus
Höhmannstraße 6 in Berlin-Grunewald
Und auch der Vergleich der schlesischen Mohnklöße mit den Berliner Mohnpielen fällt für letztere verheerend aus:
»Und auch ihr, meine lieben Mohnklöße, seid eine Melancholie, ein Märchen aus alten Zeiten. Ihr seid versunkene Kränze. Semmel im Wasser mit schwarzem Mohn und Vanille, darin liegt eure Größe. Hier nennt man euch – uäh, uäh! – Mohnpielen. Das ist die gemengte Speise aus süßlichem Rosenwasser, mit kleinen glitschigen Würfelchen und weißem fadem Mohn und etwas Zucker, und schmeckt nach nichts. [..] Mohnklöße meiner Jugend, lebt wohl. Zieht hinab den leuchtenden Strom der Vergänglichkeit, in die Dämmerung, in die seltsam dunkle Ferne, wo die große Stille herrscht.« (Alfred Kerr, Mein Berlin. Schauplätze einer Metropole, S.153f.)

Auch bei Fontane spielen Mohnpielen eine Rolle, in seinem Romanerstling Vor dem Sturm nämlich, und auch hier ist die Rolle fragwürdig. In dem Kapitel »Bei Frau Hulen« (3. Band, 4. Kapitel) lädt Frau Hulen, die Berliner Zimmerwirtin des adligen Protagonisten, Gäste ein und bewirtet sie mit etlichen Gerichten. Mohnpielen, »auf dem Mohn eine dichte Lage von gestoßenem Zimt«, werden hier als erster Gang gereicht. Die ganze Szene ist als Zerrspiegelung des Gesellschaftslebens der großen Welt auf Kleinbürgerniveau angelegt. Gespräche misslingen, Eitelkeiten werden verletzt, Bildungsgehabe misstrauisch beäugt. Es ist ein Kabinettstückchen der Abgrenzung von millimeterfeinen Standesunterschieden. Zum Schluss ist nur Frau Hulen restlos zufrieden. Alle anderen Gäste streben auf der Straße auseinander und versichern sich ehepaarweise, das man dort nicht mehr hingehen könne. Und ein besonders triftiges Argument dabei lautet:
»Die Hulen ist eine gute Frau, aber was waren das für Pilen? Semmelstücke, und das bißchen Mohn kratzig und multrig.«

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 13. Dezember 2010

Schlesische Musik

Im Jahr 2001 erschien im Wißner-Verlag das Schlesische Musiklexikon, herausgegeben von Lothar Erbrecht-Hoffmann. Auf beinahe tausend Seiten drängen sich Namen, biographische Angaben, Werkverzeichnisse von Komponisten, Musikern und Musikwissenschaftlern aus Schlesien, die dort und andernorts wirkten. Viele von ihnen kamen im 19. Jahrhundert und später nach Berlin, wirkten hier und prägten die Berliner Musiklandschaft entscheidend.

So der Komponist und Musikpädagoge Julius Stern, 1820 in Breslau geboren, der bereits 1832 nach Berlin kam, durch ein Stipendium Friedrich Wilhelms IV. gefördert wurde und 1847 einen eigenen Gesangsverein gründete, der eine ernsthafte Konkurrenz zur berühmten Berliner Sing-Akademie darstellte. Werke von Felix Mendelsohn-Bartholdy und Beethoven wurden dort aufgeführt. 1850 gründete er eine Musikschule, das spätere Stern'sche Konservatorium, eine bedeutende Ausbildungsstätte für musikalischen Nachwuchs in Berlin - übrigens auch heute noch. Die entsprechende Einrichtung der Universität der Künste (UdK) trägt den Namen Julius-Stern-Institut für musikalische Nachwuchsförderung. Sterns Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee.

Es ist müßig, alle aus Schlesien stammenden Musiker und Komponisten, die in Berlin wirkten, aufzuzählen. Die Liste wäre unübersichtlich lang und doch immer unvollständig. Einige große Namen finden sich auch im Buch. Nur wenige sollen hier erwähnt werden. Es ist erstaunlich, wie viele Organisten, die in Berlin tätig waren, aus Schlesien stammten, so Heinrich Reimann, 1850 im schlesischen Rengersdorf geboren, der zunächst Organist der Berliner Philharmonie, dann der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche war. Oder Otto Dienel, 1839 in Tiefenfurt im Kreis Bunzlau geboren, Organist der Berliner Marienkirche, der um 1900 der bekannteste Organist Berlins war. Der Aufstieg Dienels vom kleinbürgerlichen Kantorensohn aus der niederschlesischen Provinz zum angesehenen Berliner Bildungsbürger ist fast exemplarisch zu verstehen: im Buch werden ähnliche Karrieren im Zusammenhang mit Adolph Menzel und August Borsig nachgezeichnet.

Otto Dienels Bekannt- und Beliebtheit war auch seinen kostenlosen »Orgelvorträgen« geschuldet, die er immer mittwochs abhielt und die aufgrund ihrer Lebendigkeit und Improvisationsfreudigkeit bei Zuhörern aller Schichten derart beliebt waren, dass die Marienkirche oft polizeilich geschlossen werden musste, da sie die heranpilgernden Massen nicht mehr fassen konnte. Wer seine Choralbearbeitung »Wer nur den lieben Gott läßt walten« hört, kann die damalige Begeisterung teilen: mit leichter Hand gelingt es ihm, den ernsten, strengen Bachchoral mit spätromantischen Ornamenten zu umgeben, ja beinahe impressionistisch zu betupfen, was den Choral in einen musikalischen Schwebezustand versetzt.

Auch der 1862 in Liebau bei Landeshut geborene Conrad Ansorge war ein spätromatischer Komponist, wenngleich nicht Organist, sondern Pianist. Seine »Traumbilder« (Op. 8) mit den elegischen Zwischentiteln »Erinnerung«, »Vergangenheit«, »Zu spät (nach Lenau)« sind von eingängigen Harmonien ohne Schärfe geprägt, sie sind weich, gefühlsbetont, an manchen Stellen beinahe süßlich. Mit den Musikern und Komponisten aus Schlesien kam ein anderer Ton in das preußisch-karge Berlin, etwas weniger Hartes, eine noch eher aus Österreich stammende Tradition, etwas Gefühlvolleres, Seelenvolleres. Diese neuen Töne der Gemütstiefe fielen in Berlin auf fruchtbaren Boden. Das Ehrengrab für Conrad Ansorge auf dem Friedhof an der Heerstraße und die Gedenktafel an seinem Haus Nußbaumallee 27 in Berlin-Westend zeugen davon ebenso wie das prunkvolle Grab des heute zu Unrecht fast vergessenen Otto Dienel auf dem Friedhof an der Bergstraße in Steglitz, das ihm seine dankbaren Schüler errichteten.

Beide Abbildungen: © Universitätsbibliothek Frankfurt am Main – Porträtsammlung Friedrich Nicolas Manskopf, mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main

Donnerstag, 9. Dezember 2010

Eulen nach Berlin

Im Buch Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren in Berlin wird es um viele Phänomene gehen, die mit schlesischen Einflüssen auf die Stadt in Verbindung stehen. Damit die Fülle des Materials nicht einfach aneinandergereiht wird, soll das Wagnis unternommen werden, sozusagen schlesische Charakteristika herauszupräparieren. Dabei kehren immer vier Punkte wieder: verehrende oder auch kritische Bezugnahme auf die Hohenzollern, ein großes Interesse für soziale Belange, religiöse Züge und ein spezifischer Witz.

Alle diese vier Punkte finden sich auch im Werk des zeitgenössischen Bildhauers Günter Anlauf, der 1924 im Kreis Bunzlau geboren wurde und der vor zehn Jahren starb. Vor allem über ganz Westberlin verteilt sind die Spuren seines Wirkens. Von seinem Autobahnbären hatten wir bereits gehört. Wie aber bezieht er sich auf die Hohenzollern? Hier reicht der Bogen von der »Bildsäule eines Kurfürsten« (1971), Denkmal des Absolutismus mit leerem Gesicht und Allongeperücke als Säulenstumpf, über vier Attikafiguren der Künste (1971/73) auf dem östlichen Flügel des Schlosses Charlottenburg zu dem Pickelhauben-Stehauf-Klotz »Mars« (1970) mit Schild und Schwert. Seine Preußenkritik wird in dem zugehörigen Vers deutlich:
»Helm und Schwert und Schild - erst prima gedrillt. Schild und Helm und Schwert - dann mächtig ausgezehrt. Schwert und Schild und Helm - endlich wackelt der Schelm.«
Sein Interesse an sozialen Belangen, an politischer Kunst in dem Sinne, dass es ihm um eine nicht-elitäre Kunst in der städtischen Öffentlichkeit geht, die sozusagen jedem zugänglich ist, zeigt sich in vielen öffentlichen Platz-, Brücken-, Park-, Schul- und Friedhofs-Skulpturen sowie Gestaltungen etlicher, nach dem Krieg abgeputzter Berliner Altbaufassaden. Am bekanntesten sind seine vier Bärenskulpturen auf der Moabiter Brücke. Seine Brunnengestaltung für die Frauenhaftanstalt am Friedrich-Olbricht-Damm zeugt von Anlaufs sozialem Anliegen. Helmut Börsch-Supan formuliert dazu:
»Durch den Verzicht auf Dämonie und Olympiertum gewinnt sie (Anlaufs Kunst) einen sozialen Charakter in dem ursprünglichen Wortsinn, daß sie Verbindungen knüpft. Hier ist beste Berliner Bildhauertradition zu spüren: etwas vom Geiste Johann Gottfried Schadows.«

Immer wieder wird in Anlaufs Œuvre der Witz, die Ironie hervorgehoben. Der Humor stellt sicherlich den Hauptzusammenhang seines Werkes her. Aber es hat auch religiöse Seiten. So schuf Anlauf 1980 einen zwölfteiligen Bronzekreuzweg, der von fast unschuldig-naiver Frömmigkeit geprägt ist. Er schuf Grabmale von kindlicher Ratlosigkeit, so den Stein für Günter Bruno Fuchs.


Das Komische in seinem Werk kommt nie auftrumpfend oder besserwisserisch daher, nie mit dem scharfen Schwert des Sarkasmus, sondern entwaffnend, von einer früheren Entwicklungsstufe des Menschen her denkend und gestaltend. Kopffüßler, Mondgesichter, phantastisch-geklitterte Tierfiguren, Ornamente, die zu Eulen werden, Stiere, die zu Möbelblöcken werden, Maskengesichter, Sprachspielereien, sich küssende Schildkröten aus Stein, eine Bodenskulptur, die sich plötzlich zu Mund und Nase formt - all das entspricht den kindlich-spielerischen Aneignungen der Wirklichkeit.

Sogar Anlaufs Tod hat noch ein Lächeln. Sein Grab auf dem Friedhof Heerstraße ist mit seiner eigenen Arbeit geschmückt, die bereits 1968 unter dem sprachspielerischen Titel »Popocapitel« enstand. Das Kapitell auf seinem eigenen Grab als Popo, als dicke, angenehm regressiv wirkende Sehnsuchtskugel, der es gelingt, bevor die Assoziationen platt zu werden beginnen, sich in eine Eule zu verwandeln - soviel Weisheit kann im Witz, im Spiel verborgen liegen.


Foto: © www.wikipedia.de

Montag, 6. Dezember 2010

Berliner Bären

Renée Sintenis: Berliner Bär
auf dem Mittelstreifen
der Autobahn südlich des
ehemaligen Kontrollpunkts
Dreilinden
Der Reisende, der sich Berlin auf der Autobahn nähert, trifft an der nördlichen, der südlichen und der östlichen Stadtgrenze auf je einen Berliner Bären. Wer von Süden oder Westen kommt, sieht auf dem Mittelstreifen der Autobahn 115 an der ehemaligen Grenzübergangsstelle Dreilinden einen schreitenden Bären, geschaffen von der Bildhauerin Renée Sintenis. Diese Bronzeskulptur wurde 1957 aufgestellt und erfreut sich im Kleinformat großer Prominenz, da eine versilberte bzw. vergoldete Miniatur dieser Skulptur jedes Jahr den Preisträgern der Internationalen Filmfestspiele Berlinale verliehen wird. Nach der Wende wurde auf dem Mittelstreifen der östlichen Autobahn 113 kurz vor dem Tunnel Altglienicke ein Abguss des Renée-Sintenis-Bären von Dreilinden aufgestellt.

Günter Anlauf, 1983
Berliner Bär auf der Autobahn 111
Wer auf der Autobahn 111 von Norden kommt, trifft an der Stadtgrenze zwischen Stolpe Süd und Schulzendorf, am ehemaligen Grenzkontrollpunkt Stolpe-Heiligensee auf einen sitzenden Bären, der zierlich sein Beinchen vom Berlin-Sockel herunterhängen lässt. Dieser Bär wurde im Jahr 1983 vom Bildhauer Günter Anlauf geschaffen.

Grabstein Wilhelm Kuhnert
auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf
Foto: © www.wikipedia.de
Beide Künstler sind auf Berliner Friedhöfen beerdigt, Renée Sintenis im Jahr 1965 auf dem Waldfriedhof Berlin Dahlem, Günter Anlauf im Jahr 2000 auf dem Friedhof Heerstraße. Beide Künstler sind vor allem durch die Gestaltung von Tierplastiken hervorgetreten. Und, was hier entscheidend ist, beide Künstler stammen aus Schlesien. Renée Sintenis wurde 1888 im schlesischen Glatz, Günter Anlauf 1924 in Großhartmannsdorf/Landkreis Bunzlau geboren. Nach eigenen Angaben wurde bei ihm schon in der Schule mit dem guten Bunzlauer Ton modelliert, woher sein Hang zum Plastischen und Ornamentalen rühre. Im nächsten Blogeintrag werden wir mehr über Günter Anlaufs Tier-Figuren in Berlin hören. Renée Sintenis wird im Buch Erwähnung finden. Hier ist es wichtig festzuhalten, dass die beiden Künstler einen schlesischen Vorläufer hatten: den 1865 aus Oppeln stammenden Friedrich Wilhelm Kuhnert, berühmtester Tiermaler um 1900. Nachdem dieser von Schlesien nach Berlin gezogen war und dort seine künstlerische Ausbildung absolviert hatte, unternahm er von Berlin aus Reisen in den Norden, nach Ägypten, Ostafrika und Indien, um Landschafts- und Tierstudien vorzunehmen. Anders als seine Kollegen zeichnete er die exotischen Tiere nicht in den Zoos, sondern nach der freien Natur. Zum berühmten zoologischen Werk "Thierleben der Erde" (1901) von Johann Wilhelm Haacke schuf Kuhnert die lebensechten Illustrationen. Sein Lieblingsmotiv waren allerdings nicht Bären, sondern afrikanische Löwen. So, wie der Berliner Pferdemaler Franz Krüger "Pferde-Krüger" genannt wurde, trug Kuhnert seine Leidenschaft für Löwen den Beinamen "Löwen-Kuhnert" ein. Auf seinem Findlingsgrabstein aus dem Jahr 1926 auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf ist ein erschöpft liegender Löwe als Reliefarbeit zu sehen.

Die Leidenschaft für Tiere, für ihre Bewegungen, für ihre körperliche Ausdruckskraft war auch für Renée Sintenis und Günter Anlauf ein Motor ihres Schaffens. Es mag Zufall sein, dass es ausgerechnet zwei aus Schlesien stammende Künstler sind, deren Bärenskulpturen die Stadt Berlin wie mit einer Klammer einrahmen. Aber es ist ein schöner Zufall.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 2. Dezember 2010

Schlesisches Himmelreich

Beim Essen hört die Antike auf. Die Welt ist groß und jetztzeitig, und fast ebenso groß ist die Auswahl an verschiedenen Restaurants und Küchen in Berlin. Je nach Mode boomen eine Weile lang die mexikanischen Restaurants, werden von japanischen abgelöst und diese dann wieder von den thailändischen und den indischen, bis sich alles auf ein normales Maß zurechtegrüttelt hat und mehr oder weniger freundlich koexistiert. Persische Restaurants liegen neben afrikanischen, nepalesische Restaurants neben russischen. Boomt eine Zeitlang das Niegehörte, Niegesehene, Niegegessene, Krokodil und Känguruh oder echte chinesische Küche für Chinesen mit seltsamen Eingeweide und undefinierbaren Zutaten, so gibt es gleichzeitig auch wieder einen Hang, ja fast einen Drang zur traditionellen, bodenständigen, regionalen Küche, zur bayrischen, zur schwäbischen, zur österreichischen und sogar zur böhmischen Küche, wie sie ja heute in Böhmen, in Prag immer noch lebendig ist. Lateinische Küche aber gibt es nicht. Ebenso sucht man schlesische Restaurants im Berliner Stadtbild vergeblich, fast scheint die Küche, wie der niederschlesische Dialekt, ausgestorben zu sein. In Breslau, in Mittel- und Niederschlesien sind mir keine Restaurants begegnet, die die deutsche Küche pflegen. Am Breslauer Ring wird dagegen das Restaurant Karczma Lwowska betrieben, das mit altpolnisch-lemberger Küche aufwartet. Nur in Görlitz, nach der Wende plötzlich der letzte deutsche Zipfel Niederschlesiens, hat man die kulinarischen Traditionen Schlesiens wiederbelebt. Dort gibt es mit einem Mal in einigen Restaurants Schlesisches Himmelreich und schlesische Linsensuppe mit einer Kelle heißen Sauerkrauts in der Tellermitte, in etlichen Bäckereien viel typisches Mohngebäck und schlesischen Sträßelkuchen. Hier scheint also (noch? wieder?) eine Tradition lebendig zu sein.

Die ganze Zeit schon möchte der Berliner Restaurantkenner ungeduldig widersprechen. Natürlich gibt es in Berlin schlesische Restaurants. Das Restaurant Kolk in Spandau zum Beispiel, das seit 1989 Spezialitäten aus Schlesien, Ostpreußen und Berlin anbietet, nach eigener Aussage deswegen, weil die Vorfahren der heutigen Restaurantbesitzer teils aus Schlesien und teils aus Ostpreußen stammen. Hier gibt es die oft süß-saure schlesische Küche, hier gibt es zum Nachtisch schlesische Mohnklöße. Hier kann man wohlschmeckende und gehaltvolle Gerichte bekommen, die auf diese Weise vorm Aussterben bewahrt werden.

Weitere Restaurants in Berlin, die schlesisch in ihrem Namen trugen, das deutsch-schlesische Restaurant Gourmand-Smakosz in Moabit, Kochs Brunnen Gasthaus mit polnisch-schlesisch-deutscher Küche am Prenzlauer Berg sind kürzlich eingegangen. Aber das schlesisch-böhmische Restaurant Duett in Steglitz und das schlesische Restaurant Chopin am Wannsee erfreuen sich größerer Beliebtheit. Letzteres bezieht sich kulinarisch sowohl auf die deutsche mittel-niederschlesische als auch auf die polnisch-oberschlesische Küche, in der Pirogen, Barczsz, Bigos und Żurek (Sauerteigsuppe) angeboten wird. Mein Vater erzählte, dass eine Kolumne, die er in der Zeit um 1930 im oberschlesischen Lokalblättchen gerne gelesen habe, den Titel trug »Wo der Żur dampft«, was so viel bedeutete: wo man gemütlich beisammen sitzt und die neuesten Geschichten erzählt. In diesem Restaurant dampft sicherlich der Żur, wahrscheinlich sogar der Żurek królewski, der Königs-Żur. Und nicht nur dass hier das Schlesische Himmelreich, die schlesische Bouillon mit Fadennudeln, der Sauerbraten und die schlesischen Mohnpielen vorm Aussterben bewahrt werden, ist erwähnenswert, sondern dass zur Weihnachtszeit polnische Gänse mit einer Rosinen-Mandelsoße und Klößen von den polnischen Restaurantbetreibern in ein typisch schlesisches Gericht verwandelt werden.

Auch das Restaurant Schlesisch Blau in Kreuzberg wird übrigens sehr gelobt. Aber der Name lockt auf eine falsche Fährte. Die Küche ist rein französisch und der Name rührt lediglich von seiner Lage her: der Nähe zum Schlesischen Tor.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 29. November 2010

Allerheiligen

Hedwigsfriedhof
Nur zu Allerheiligen tummeln sich die Angehörigen etlicher Verstorbener auf den katholischen Friedhöfen Berlins. Viel mehr rote Grabkerzen als sonst üblich brennen an diesem katholischen Feiertag. Einige Gräber auf dem Hedwigsfriedhof, meistens polnische oder oberschlesische, sind mit Kerzen, Grableuchten und Laternen geradezu überhäuft, kleinen flackernden Inseln gleich, die sich gegen das graue Licht des Novembers anstemmen. Hastig werden gelbe Ahorn- und Buchenblätter von den Gräbern geharkt, die sich bislang auf alle Gräber und Wege gleichmäßig verteilt hatten. In das Geraschel der Blätter mischt sich regelmäßig das Gezischel der S-Bahn. Dann wird es stiller. Noch wölben sich die orangegelben Hauben der Trauerbuchen über den Gräbern. Nach ein, zwei Herbststürmen werden sie kahl sein. Dann wird der Schnee kommen und der Frost. Die eine oder andere Grabstätte wird durch den kommenden Winter, durch Kälte und Frost beschädigt, gesprengt, verwittert. Schon jetzt rutschen manche Grabaufbauten ab und zerfallen. Die Krähen werden sich auf den kahlen Ästen niederlassen als schwarze, ungenießbare Winterfrüchte.

Leider ist es nicht üblich, auf Grabsteinen den Geburtsort zu verzeichnen. Dabei sind es auf dem Hedwigsfriedhof 2 an der Smetanastraße in Berlin-Weißensee sicher weit über fünfzig Prozent der Bestatteten, die aus Schlesien stammen. Man erkennt es an den Namen. Die typisch mittel-niederschlesischen Namen wie Witzel, Giesel, Wenzel, Zobel sind dabei weniger stark vertreten als typisch oberschlesische Namen wie Knossalla, Cimbollek, Skrobotz, Kaluza, Kamionka, Czwak, Kudelka, Tlach, Laschewski, Woitrik, Smala, Przyniczynski, die meisten im ausgehenden 19. Jahrhundert geboren. Es ist ein unspektakulärer Friedhof. Aber er zeugt von der Arbeitsmigration aus Schlesien nach Berlin um 1900. Viele der Ankömmlinge versuchten, dem sozialen Elend der schlesischen Viertel um den Schlesischen Bahnhof und das Schlesische Tor herum zu entgehen. Viele siedelten sich in Weißensee an. Auch dieser Friedhof wird zu Allerheiligen mit vielen roten Grabkerzen geschmückt und leuchtet still in seiner Abgeschiedenheit.

Hedwigsfriedhof im November
Weniger romantisch ist der Hedwigsfriedhof 3 an der Ollenhauerstraße in Reinickendorf gelegen. Im Dreiminutentakt schwebt ein Flugzeug nach anderen geräuschvoll und riesig herab, um auf dem nahen Flughafen Tegel zu landen oder von dort zu starten und ebenso geräuschvoll wieder am Himmel zu verschwinden. Pfarrer Josef Lenzel ist dort begraben. 1890 in Breslau geboren, kümmerte er sich während des Zweiten Weltkriegs in seiner Pfarrei in Berlin-Niederschönhausen um die polnischen Zwangsarbeiter, half ihnen und betreute sie seelsorgerisch. 1942 wurde er von der Gestapo verhaftet und starb im selben Jahr im KZ Dachau. Drei Gedenktafeln und zwei Straßenbenennungen in der Stadt zeugen von seinem mutigen Wirken in Berlin. Auch ihm brennen zu Allerheiligen rote Lichter.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 25. November 2010

Hedwigsfriedhof 1

Der alte katholische Domfriedhof der Hedwigskathedrale an der Liesenstraße lag nach 1945 zwischen den östlichen und westlichen Machtblöcken, nach 1961 auf dem Todesstreifen, dem Vakuum des Kalten Krieges. Nach der Wende war er wieder allen zugänglich, aber gerupft, geplündert, vieler Gräber beraubt. Reste der Berliner Mauer umgrenzen ihn an der einen Seite, hohe Brandmauern und eine weite Wiese mit Gräbern des protestantischen Domfriedhofs an der zweiten Seite und Gräber des französisch-reformierten Friedhofs, darunter das Ehrengrab Theodor Fontanes, an der dritten Seite. Zwischen 1961 und 1989 waren diese Friedhöfe schwer bewacht, die Gräber, die genau im Mauerstreifen lagen, wurden entfernt, die Grabsteine teilweise dazu benutzt, einen Kolonnenweg für die Fahrzeuge der Grenzpatrouillen anzulegen.

Grabstein des Priesters Otto Scholz
im Hedwigsfriedhof
Der alte Domfriedhof der St. Hedwigsgemeinde an der Liesenstraße wurde 1834 geweiht und ist heute der älteste katholische Friedhof der Stadt. Da die Hedwigskathedrale vor allem für schlesische Katholiken, besonders für den Adel, errichtet worden war, fanden sich ursprünglich viele Gräber von Schlesiern auf dem ersten katholischen Friedhof am Oranienburger Tor, der heute nicht mehr existiert, da er von Wohnhäusern überbaut wurde. Doch auch auf dem Nachfolge-Friedhof an der Liesenstraße finden sich noch schlesische Spuren. Neben Gräbern von Rheinländern, Westfalen, Bayern, Österreichern, Franzosen, Italienern, Spaniern und Polen gibt es bzw. gab es auch immer wieder Gräber von Schlesiern. Durch die Zeitläufe verloren gegangen ist das Grab von Johannes Janda aus Kleindarkowitz bei Hultschin, eines klassizistischen Bildhauers im 19. Jahrhundert, der sowohl in Schlesien als auch in Berlin etliche Werke hinterließ, so die Heiligenfiguren für das katholische Hedwigskrankenhaus an der Hamburger Straße oder das Relief »Maria, dem Hl. Dominikus den Rosenkranz reichend« in der Pauluskirche in Moabit. Oder das Grab des einstmals berühmten Schauspielers Karl Seydelmann aus dem schlesischen Glatz, eines Freundes von Karl von Holtei. Oder das Grab des aus Schlesien stammenden Theologen, Domprobstes und NS-Widerstandskämpfers Bernhard Lichtenberg, das in die St. Hedwigskathedrale verlegt wurde. Doch auch heute noch finden sich Gräber von Schlesiern oder Personen, die maßgeblich mit Schlesien in Beziehung standen, Gräber von schlesischen Priestern aus Breslau, Lauban, Glatz oder das Grab des aus Rheine in Westfalen stammenden Franz Anton Egells, des Pioniers des modernen Maschinenbaus in Berlin am Oranienburger Tor, der 1829, um sich günstige Rohstoffe zu sichern, im schlesischen Reinerz eine Eisenhütte, die Egellshütte, erwarb. Bekannt wurde Egells auch dadurch, dass er zehn Jahre lang den jungen Schlesier August Borsig bei sich beschäftigte, bevor dieser sich noch erfolgreicher selbständig machte.

Der Hedwigsfriedhof im Herbst
Der Hedwigsfriedhof 1 an der Liesenstraße ist eine Oase der Zeitentrücktheit, die seiner besonderen Lage im Zentrum der weltpolitischen Verstrickungen geschuldet ist. Auf engem Raum, der weit wirkt, weil viele Lücken klaffen, gibt sich die katholische Welt Berlins ein Stelldichein. Verrostete Grabeinfassungen, einstmals prachtvoll, erinnern an liegengebliebene Kutschen aus Alt-Österreich. Niederschlesische Namen wie Barthel oder Hahnel und oberschlesische Namen wie Grzeszkiewicz, Wosnik oder Kolodziejski zeugen von vielfältigen schlesischen Mitgliedern der St. Hedwigsgemeinde. Die leere Wiese des protestantischen Domfriedhofs öffnet den Blick auf eine Weltlandschaft zwischen Brandmauern und Prachtgruften. Die Gräber, die in die Brandmauer eingelassen sind, wirken eingesunken wie antike Grabmale. Die Atmosphäre wird dichter unter den Fliederbüschen. Die S-Bahn rattert vorbei, sie quietscht und zischelt, bevor sie in den Tunnel zum Nordbahnhof eintaucht. Trauerbuchen bewachen eingesunkene Gräber, um die sich niemand mehr kümmert. Eisenkreuze rosten vor sich hin. Marmorgrabsteine stehen schief wie wackelnde Zähne. Kreuze mit Holzdächlein erinnern an den lieblicheren Süden. In der glühenden Hitze des Sommers sind die weiten Wiesen verdorrt und die langen Gräser hängen welk und verbrannt um die Kanten der Gräber. Im Herbst sind sie mit Laub überhäuft. Leer ist der Friedhof und einsam. Wer keine Heimat hat – hier kann er Ruhe finden.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 22. November 2010

Hydranten im Tiergarten

Man muss ins schlesische Kreisau fahren, um etwas über Berlin zu erfahren. Eingeladen war ich, um in Kreisau vor fünfzig deutschen, polnischen und ukrainischen Studenten etwas über deutsche und Lemberger Spuren in Breslau und über polnische Spuren in Lemberg, dem heute ukrainischen Lviv, zu erzählen. Neben einigen polnischen Historikern kam ich mit den Veranstaltern ins Gespräch, Rotariern, von denen einer polonophil war (»einmal Polen, immer Polen«), ein anderer gegen das Zentrum gegen Vertreibungen wetterte und ein dritter sich für den Erhalt von SS-Gräbern in Polen aussprach (»diese verführten jungen Männer«). Da fiel mir ein Rotarier auf, ein Theologe, der sehr bewandert war und interessiert an der Thematik der schlesischen Spuren in Berlin. Über die Firmenstempel von Beuchelt aus Grünberg/Schlesien am Bahnhof Friedrichstraße verständigten wir uns auf der Stelle. Er nahm an, dass ich dann auch die Hydranten im Tiergarten kennen müsste. Aber da konnte ich nur den Kopf schütteln. Wo denn im Tiergarten? Na, überall, im Umkreis des Großen Stern.

Hydrantendeckel im Tiergarten
Ich ließ die flachen Gebäude von Kreisau, den bunten Kinderspielplatz, den Innenhof von der Größe zweier Fußballfelder hinter mir zurück. In Berlin machte ich mich auf die Suche. Aber so einfach wie an der Friedrichstraße gestaltete sie sich nicht. Ich lief auf großen und kleinen Wegen unbestimmt durch den Tiergarten, schlängelnd vor und zurück und schaute mir nach den Hydranten die Augen aus dem Kopf. Ich stellte sie mir so vor wie jene, die auf den alten Berliner S-Bahnsteigen in die Höhe ragen, kleinen Männchen mit zwei kurzen Armen gleich. Ich fand sie nicht und ärgerte mich schon über meine Naivität, auf die vage Angabe eines mir Fremden hin im Berliner Tiergarten meine Zeit zu vertrödeln. Ich lief am Neuen See entlang und am Kanal, hin- und herspähend, bis mir der Gedanken kam, dass es im Tiergarten ja gar keine Hydranten zu gegeben brauchte, da die Feuerwehr im Brandfalle das Wasser je direkt aus den Gewässern pumpen könnte. Also schlängelte ich mich langsam durch schmale Wege zurück, Wege, benutzt von einsamen Männern und gesäumt von Papiertaschentüchern. Und da sah ich ihn: es war kein Hydrant, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, sondern ein ovaler eiserner Hydrantendeckel, der im braunen Laub des Bodens kaum auffiel. HYDRANT war darauf geprägt, und darunter RUDOLF WARMBT WALDENBURG SCHL. zu lesen. Von dieser längst wieder untergegangenen Eisenfirma Warmbt aus der kleinen Industrieregion des Waldenburger Berglands hatte ich noch nie etwas gehört. Aber das spielte keine Rolle. Das SCHL. löste eine große Freude in mir aus. Und es stand nicht nur einmal da. Im näheren Umkreis schon fand ich, jetzt mit geschärftem Blick, mehrere Hydrantendeckel aus SCHL. Ich hätte nicht genau sagen können warum, aber dieses WALDENBURG SCHL. erfüllte mich mit einer so großen Befriedigung, dass ich dem Theologen aus Kreisau einen Dankesgruß in alle vier Himmelrichtungen blies, am stärksten aber in Richtung Waldenburg.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 18. November 2010

Schlesische Antike in Berlin

Wie ein Detektiv stürzte ich mich in die städtische Wirklichkeit mit ihren Steinen, Eisenträgern und Gebäuden hinein. Ebenso durchstöberte ich wichtige kulturelle Zeugnisse der Stadt. Ich fühlte mich wie ein Archäologe, der die abgesunkene schlesische Antike in Berlin zu rekonstruieren versucht. Das Thema war ergiebig, ist ergiebig und wird immer ergiebiger. Aber ich möchte das Buch nicht vorwegnehmen, sondern statt dessen an dieser Stelle auf ein paar aussagekräftige Splitter hinweisen, die aus Platzgründen im Buch nicht aufgenommen werden konnten. Zum Buch nur so viel: es sind große Namen, berühmte Zeugnisse aus Kunst, Literatur, Geistes- und Industriegeschichte, die mit dem schlesischen Einfluss auf Berlin verknüpft sind. Da sind Carl Gotthard Langhans, der Erbauer des Brandenburger Tors, und Adolph Menzel, Gerhart Hauptmann und Willibald Alexis, Ferdinand Lassalle und August Borsig, Ludwig Meidner und Arnold Zweig, um nur einige Schlesier zu nennen, die Berlin maßgeblich beeinflusst haben. Sie haben das Stadtbild geprägt (und prägen es bis heute), sie haben maßgeblichen Anteil an der mythisierenden Verehrung Friedrichs des Großen, sie haben den Witz für die altberliner Posse aus Schlesien mitgebracht, wie auch den sozialreformerischen Impetus und den Hang zur seelentiefen Mystik. All das wird im Buch »Jeder zweite Berliner« ausführlich hergeleitet und beschrieben.

Hier nun bleiben einzelne Fundstücke zu beleuchten, die immer im Zusammenhang der schlesischen Einflüsse auf die Stadt Berlin stehen.

Firmenstempel »Beuchelt«
an der Friedrichstraße
Bahnhof Friedrichstraße, oberes S-Bahngleis in Richtung Westen. Sehr oft habe ich dort gestanden und auf die S-Bahn Richtung Charlottenburg, Richtung Wannsee gewartet, vor der Wende, als die S-Bahn noch im 20-Minuten-Takt fuhr, hier endete und der Blick auf die östlichen Nachbargleise eines fremden Systems mit grauen Metallplatten versperrt war, und nach der Wende. Lange habe ich dort gestanden und gewartet, noch länger bei Bauarbeiten und Pendelverkehr, weniger lang im neuen Zwei-Oder-Drei-Minuten-Takt nach der Wende. Immer ging mein Blick hierhin und dorthin, gelangweilt oder in Eile, glitt über die Gesichter der Reisenden, auf die Baustellen unten, bohrte sich in östliche Richtung, um die Ankuft des Zuges versuchsweise zu beschleunigen. Hunderte Male habe ich dort gestanden und vor mich hin gestarrt und sie nie gesehen - die eisernen Firmenschilder an den Metallstreben der S-Bahn-Konstruktion, obwohl sie sich sogar auf Augenhöhe befinden. Der bekannte Satz, dass man nur das sieht, was man weiß, ist mit niemals deutlicher vor Augen geführt geworden als hier. Andreas Kossert hatte in seinem Buch "Kalte Heimat" auf die Firmenstempel der schlesischen Firma Beuchelt am Bahnhof Friedrichstraße hingewiesen, und so ging ich sie suchen. Ich machte mich auf eine langwierige Detektivarbeit gefasst, vermutete diese Schilder an den verborgensten und geheimsten Stellen des labyrinthischen Bahnhofs. Wie überrascht war ich, als genau an den Stellen, an denen ich so oft gestanden und gewartet hatte, sich mir der Blick plötzlich entschleierte. Da stand es: »Beuchelt u. Co. 1923 Grünberg - Schlesien«. Und es stand dort mehrfach, im Wechsel mit den Firmenstempeln eines Eisenunternehmens aus Stettin. Es war, als hätte sich ein unsichtbares Lid von meinen Augen gehoben und ich erst richtig zu sehen begonnen.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 15. November 2010

Breslauer Wollmarkt auf dem Alexanderplatz

Es war ein Schlüsselerlebnis, das mich zu dem Buch »Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren in Berlin« führte. Es begann mit einem harmlosen Touristenprogramm für Gäste aus Südwestdeutschland, die noch nie in Berlin gewesen waren. Reichstagskuppel, Brandenburger Tor, Museumsinsel, Fernsehturm, Alexanderplatz. Dort sprudelte der Neptunsbrunnen und die Kinder erfreuten sich am Meeresgetier, das den Netzen entwischt war. Vier Flussgöttinnen sorgten dafür, dass der Brunnen nicht versiegte. Ich hatte sie mir noch nie so ausführlich angeschaut und wusste sie nicht zu benennen. Der Reclamführer aus den siebziger Jahren gab Auskunft über die Ströme Preußens Ende des 19. Jahrhunderts: die Figur mit den Trauben solle den Rhein, die Figur mit den Ähren die Elbe, die Figur mit dem Holz (Flößer!) die Weichsel (!) und die Figur mit dem Ziegenfell die Oder darstellen, denn das Fell verweise auf den Breslauer Wollmarkt.

Da durchfuhr es mich. Eine Allegorie des Breslauer Wollmarkts sitzt mitten auf dem Alexanderplatz! Da schreibe ich Bücher über Breslau und zitiere darin Gedichte aus dem 16., 17., 18. Jahrhundert über den Breslauer Wollmarkt und weiß nicht, das seine Verkörperung Wasser in den Berliner Neptunsbrunnen gießt!

Das Gedicht über den Breslauer Wollmarkt von Johann Andreas Mauersperger aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam mir in den Sinn:

»Die große und kleine Waag ist auf dem Ringe,
Bey welcher der, der was zu wägen, sich findt ein.
Die ein hochedler Rat sich bestellt zur Waage
Sind mühsam, dieser steht und wiegt, was man gebracht,
Und jener merket auf, wieviel die Last betrage,
Ein anderer sieht, daß er die Zettel fertig macht.
Wenn man den Schafen hat ihr weiches Kleid genommen,
So findt der Adel sich mit Haufen in der Stadt.
Man sieht das Schäfervolk von allen Seiten kommen,
Daß lange Wolle Säck auf großen Wagen hatt.
Kann man die Wolle nicht alsbald zur Waage tragen,
So kürzt man sich die Zeit mit Bier und Branntewein. (..)«

Oder-Allegorie am Neptunbrunnen
am Alexanderplatz
Bei dem durch und durch schlichten Gedanken »hier sitzt ja ein Stück Breslau, ein Stück Schlesien mitten in Berlin!« wurde mir überraschend heimatlich zumute. Ich fing an zu suchen, meinend, dass das alles längst beschrieben wäre und nur ich nichts davon wüsste. Es gab und gibt ja alles über Berlin, Berlin zu allen Zeiten, das jüdische, hugenottische, russische, sogar das niederländische Berlin, Berlin bei Tag und bei Nacht, von oben und von unten, von hinten und von vorne. Bloß das schlesische Berlin war nicht dabei. Und so ging ich erst richtig auf die Suche.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 11. November 2010

Selbstauskunft

Warum geht jemand, der am Rande des Ruhrgebiets geboren und aufgewachsen ist, der nicht von westfälischen, sondern von schlesischen Eltern abstammt, mit neunzehn Jahren nach Berlin? Und nicht in das Berlin von heute, sondern in das marode, geteilte Westberlin der beginnenden achtziger Jahre? Was konnte daran anziehend sein? Es waren wohl die zerschossenen Häuser und Kriegsruinen, die noch sichtbar waren, die Ruine des Anhalter Bahnhofs mit dem riesigen überwucherten Gleisareal, die Namen schlesischer Orte auf angerosteten Straßenschildern, das schlesische Tor, die ganze mangelnde Geschichtsvergessenheit, die einen starken Zauber ausübten, viel stärker als die Jetztzeit der Kreuzberger Nächte um 1980 es je vermocht hätte. In beiden Teilen der Stadt, in Westberlin und Ostberlin, war die unfreiwillige Konservierung der jüngeren katastrophischen Geschichte allgegenwärtig. Die Stadt war wohltuend unbequem, sperrig, anachronistisch, kein Vergleich zu den glatten Fassaden hysterischer Geschichtsauslöschung so mancher westdeutschen Stadt. In Berlin schien etwas zu warten, etwas Unerledigtes, die Geschichte zum Greifen nah, der abgetrennte Osten wenigstens noch schemenhaft präsent.

So kam es, dass die Stadt mich wie ein Magnetberg anzog, mich fesselte, ohne dass ich genau hätte sagen können warum, mich in ihren Bann zog. Ich tat merkwürdige Dinge zu Beginn der achtziger Jahre. In der frühen Dämmerung eines Winternachmittags begab ich mich zur Ruine des Anhalter Bahnhofs, umkreiste sie und tauchte dann in das dahinterliegende Gleisareal ein, das verödet und überwuchert da lag. Unter der winterlich abgestorbenen Vegetation fand ich alte verrostete Gleise, Schienenstränge mit Holzschwellen. Ich wusste nichts. Ich wusste nur, dass mein Vater während des Zweiten Weltkriegs hier mehrfach angekommen und abgefahren sein musste. Vielleicht von und nach Schlesien? Nichts wusste ich. Aber es reichte aus, um in der Dunkelheit eine geschichtliche Aura über die Brache zu wölben. Ich bückte mich und brach ein Stückchen morschen Schwellenholzes ab. In Erwartung verschwörerischen Einverständnisses überreichte ich es meinem Vater zu Weihnachten. Er aber schaute mich verständnislos an und ließ es liegen.

Das ist lange her. Die Stadt hat sich gewandelt. Das mit jüngerer Geschichte gesättigte Vakuum ist nach der Wende belüftet worden. Die Stadt ist damit beschäftigt, ihre Ecken und Kanten abzuschmirgeln, die historischen Verwerfungen zu zähmen, zur Beruhigung allerorten harmlose Bären und lustige Schilder aufzustellen, auf denen im Triumph der Paradoxie steht, wie man zu sein hat, um Berlin zu sein, Wandel und man selber, anders und sexy, arm oder exzentrisch oder so wie alle. Jeder kann sich, je nach Neigung, neue Schilder ausdenken, womöglich »Sei Schloss. Sei Brache. Sei Berlin«. Kaum aber vorstellbar wäre folgender Slogan: »Sei Schlesien. Sei Pommern. Sei Berlin.«

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 8. November 2010

Nesthäkchen zieht von Schlesien nach Bayern

Ury, Else: Nesthäkchen und ihre Puppen,
Schutzumschlag von Franz Kuderna
der Ausgabe von 1913
Foto: © de.wikipedia.org
Aber nicht nur in den heutigen Zeiten politischer Korrektheit und vorauseilenden Gehorsams werden Hinweise auf den deutschen Osten aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland eliminiert, sondern dies geschah bereits in den fünfziger Jahren. Ein sprechendes Beispiel ist dabei die populäre Nesthäkchen-Reihe von Else Ury. Hier zeigt sich der allgemeine Drang nach dem Zweiten Weltkrieg, die unliebsamen Ostbezüge, die der neuen Westorientierung nur hinderlich gewesen wären, hinter sich lassen zu können. Spielen die ersten, in den zehner und zwanziger Jahren verfassten Bände in Berlin, aber auch bei bäuerlichen Verwandten auf Gut Arnsdorf in Schlesien, so sind diese Verwandten in der Neuauflage aus den fünfziger Jahren mit einem Mal angestammte Niederbayern.

Nesthäkchens Freundin, die in der Originalausgabe aus Breslau stammt, stammt nach 1945 aus München (Bd. 3, Nesthäkchen im Kinderheim). Besonders aufschlussreich ist Band 5, Nesthäkchens Backfischzeit: im Original verbringt Nesthäkchen ihre Sommerferien wieder im schlesischen Arnsdorf. Wegen der polnischen Aufstände in Oberschlesien 1919/20 muss sie übereilt in Richtung Berlin abreisen, bleibt aber aufgrund eines Eisenbahnerstreiks im schlesischen Sagan liegen, wo sie sich alleine durchschlagen muss. Diese historische Dimension wird nach 1945 getilgt: dort ist Nesthäkchen bei ihren niederbayrischen Verwandten zu Gast (bei denen seltsamerweise - es spielt ja immer noch 1919/20 - ein schlesisch sprechender Knecht auftaucht, der vermutlich bei der Neubearbeitung übersehen wurde), reist nach Berlin ab und bleibt wegen eines allgemeinen Generalstreiks in Nürnberg liegen. Auch in Band 9, Nesthäkchen und ihre Enkel, stammt im Original ein verwaistes Mädchen in Südamerika von schlesischen Auswanderern ab, die in den fünfziger Jahren zu Westfalen mutiert sind. Lediglich in Band 2, Nesthäkchens erstes Schuljahr, wird nach 1945 das Ferienziel, das schlesische Riesengebirge, nicht geändert - Hinweis vielleicht auf die übermächtige Bekanntheit dieses Gebirges mit dem Hauptgipfel der Schneekoppe, das, anders als Sagan beispielsweise, nicht mit Amnesie belegt werden konnte und sollte.
Firmenlogo der Schneekoppe
von 1965 bis 1978
Foto: © www.schneekoppe.de
An dieser Stelle ist auch der Firmenname von Diabetikerprodukten, Schneekoppe von Interesse: tatsächlich auf der Sammlung von Heilpflanzen im Riesengebirge der zwanziger Jahre beruhend, wählte die nach Westen vertriebene Heilkräuterkundigenfamilie bewusst den Namen Schneekoppe als Firmenemblem, um auf den Ursprung ihrer Tätigkeit und gleichzeitig auf ihre verlorene Heimat hinzuweisen.

Aber das sind Ausnahmen. In den meisten Fällen wurden die erinnernden Hinweise an die Ostgebiete verunmöglicht. Für die zweite Generation der Vertriebenen führte das zu einem starken Gefühl der Unwirklichkeit all ihrer mythologischen Stoffe, die nun keinerlei Realitätsbezug mehr hatten. Bei den heute Vierzig- bis Sechzigjährigen (und bei den Jüngeren ohnehin), die nicht familiär betroffen sind und waren, führte die Auslöschung von Erinnerung zu einer extremen Unkenntnis. Kein Verlust schmerzt sie, weil sie noch nicht einmal von dem Verlorenen etwas wissen. Für diejenigen Polen, die sich mit der deutschen und preußischen Geschichte in den heute polnischen Woiwodschaften Śląsk (Schlesien), Warmia i Mazurskii (Ermland und Masuren), Pomorski (Pommern) beschäftigen, ist diese Ignoranz vollkommen unverständlich, ja, sie sind jedes Mal zutiefst schockiert und verunsichert, wenn ihnen etliche Deutsche, durchaus auch Intellektuelle, mit Unkenntnis und Desinteresse begegnen. Wie klagte neulich ein polnischer Kunsthistoriker aus Breslau verzweifelt? Die Deutschen, auch Kollegen, wüssten nichts, so, als begänne östlich der Oder eine gelbe Wüste, als befände sich dort nichts mehr oder höchstens, nach Taiga und Tundra, das Eismeer in ewigem Winter.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 4. November 2010

Amnesien

Kossert, Andreas: Kalte Heimat,
WJ Siedler Verlag 2008
Foto: © buchhandel.de
Nach 1945 wurde Deutschland neu aufgeteilt. Zu dieser Aufteilung gehörte auch ein neuer Blick auf die abgetrennten deutschen Ostgebiete. In der SBZ und in der DDR sollte die Erinnerung an Schlesien, Pommern und Ostpreußen möglichst schnell aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden. In den Westsektoren ging man zunächst nicht ganz so rabiat vor. Vertriebenenorganisationen und -treffen wurden zugelassen, Denk- und Mahnmale in vielen Städten erinnerten an die Ostgebiete, Schulen konnten in Schlesienschule, Versammlungssäle in Pommernsaal umbenannt werden. Es gab den »Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten« als eigene Partei. Ab den siebziger Jahren jedoch ließ diese sowieso schon brüchig gewordene Erinnerungskultur stark nach. Mahnmale wurden wieder abgebaut, und von offiziellen Seiten, von Parteien und Verbänden wurden und werden letzte Erinnerungsreste an den ehemaligen deutschen Osten der Amnesie anheimgegeben. Ein jüngeres Beispiel stellt die Umbennenung der Schlesien-Schule in Berlin-Charlottenburg im Jahr 2004 dar, wie es Andreas Kossert in seinem Buch Kalte Heimat beschreibt: argumentierten CDU und FDP, dass »Schlesien für einen Teil deutscher und europäischer Geschichte stehe, für den sich niemand zu schämen habe«, so konterte die SPD, »der Name Schlesien könne zu Missverständnissen nicht nur bei unseren polnischen Nachbarn führen [...], die Schule müsse sich von allen restaurativen Interessen distanzieren.« Schlug die CDU der Schulleitung vor, Kontakt zu einer polnischen Schule aufzunehmen, so begründete der Schulleiter schließlich die Entscheidung für die Umbenennung damit, dass »im Zuge der deutschen Wiedervereinigung jegliche Ansprüche auf die ehemaligen Ostgebiete ad acta gelegt worden seien« und: »Keiner unserer Schüler hat einen Bezug zu Schlesien« - »eine Aussage«, so Kossert, »die einer gründlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten würde.« (Kossert, Kalte Heimat, München 2008, S. 191 f.)

Ebenso sollte auf Antrag von Grünen und SPD der Breslauer Platz in Köln zu Beginn der neunziger Jahre in Willy-Brandt-Platz umbenannt werden. Jedoch blieb der Name Breslauer Platz aufgrund von Protesten aus der Stadtbevölkerung, einer Mischung aus Ur-Kölnern und Schlesiern, erhalten.

Es ist wohltuend zu beobachten, wie entspannt polnische Studenten mit den deutschen Namen aus Schlesien umgehen können. So freute sich eine Gruppe polnischer Germanistikstudenten, die vom Haus Schlesien in Königswinter zu einer Tagung eingeladen waren, über die Bezeichnung der Zimmer nach deutschen Städtenamen aus Schlesien. Sie waren sehr zufrieden mit den Zimmernamen Glogau und Bunzlau in Haus Breslau, mit den Zimmern Ratibor und Bolkenhain in Haus Oder, mit Neurode und Bad Reinerz in Haus Grafschaft Glatz. Da sie aber aus Wrocław kamen, hätten sie natürlich alle am liebsten das Zimmer Breslau im Haus Riesengebirge bewohnt.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 1. November 2010

Heimatverbot

Ein prominenter wie auch besonders radikaler Vertreter der Heimatproblematik ist der Schriftsteller Franz Fühmann. 1922 in Rochlitz (Rokytnice) im böhmischen Riesengebirge geboren, ging er in Wien und Reichenberg (Liberec) zur Schule, machte in Hohenelbe (Vrchlabí) Abitur und lebte und arbeitete nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft seit 1949 in der DDR, in Märkisch-Buchholz bei Berlin. Zwei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1984 reflektierte er über seine Herkunft in einem öffentlichen Gespräch mit Winfried F. Schoeller:

Fühmann: »Zu den Gründen, warum mich diese Landschaft (das Bergwerk) so fasziniert, kommt hinzu: Ich habe ja meine angestammte, urpoetische Heimat Böhmen verleugnet wie Petrus den Herrn, wenn auch aus ehrsamen Motiven. Ich wollte nicht ins gleiche Boot kommen mit diesen Trachtenpflegern und Heimatvereinen. Ich habe mir gesagt: das ist aus und vorbei, die Umsiedlung ist geschehen, ich habe die Heimat gewaltsam getilgt. In den ›zweiundzwanzig Tagen‹ habe ich in einem kleinen Abschnitt darüber geschrieben. Johannes Bobrowski machte das mit seiner litauischen Heimat nicht. Er hat seine Landschaft hinübergerettet und bewahrt.«

Schoeller: »Sie haben sich in die historische Einsicht, daß dieses Problem der Heimatvertriebenen erledigt ist, gefügt und deshalb nicht über Böhmen geschrieben?«

Fühmann: »Ich habe sogar noch etwas mehr gemacht: ich habe sie getötet. [...] Das ist ein Problem. Man kann sich die Heimat doch so verleiden, daß man sie für sich tötet. [...] Ich habe mir die Heimat richtig verboten: Du treibst dich jetzt nicht auf den Bergen herum! Ich habe versucht, der märkischen Landschaft etwas abzugewinnen, was nicht geht. Ich bin kein Märker, nicht dort aufgewachsen.

Dieses Heimatverbot war sicher eine Komponente mit, daß mir die Lyrik abgestorben ist - nicht die wesentliche, aber doch eine. Nun entdecke ich das Gebirge gewissenmaßen nach unten geklappt und krieche dort herum.«

(Franz Fühmann: Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Ein Lesebuch, Hamburg 1983, S. 378 f.)



Fühmann, Franz:
Zweiundzwanzig Tage oder
die Hälfte des Lebens
,
Hinstorff Verlag 1999
Foto: © buchhandel.de
Gerade gegen Ende seines Lebens übte der Topos des Bergwerks eine starke Anziehungskraft auf Fühmann aus. Das Bergwerk mit seinen unterirdischen Verästelungen wurde für ihn zu einem Sinnbild für die Auffindung, das Aufspüren verschiedenster Bezüge und Bindungen, die in seinem Leben bedeutungsvoll waren. Der Auszug aus den Zweiundzwanzig Tagen, auf die Fühmann in dem obigen Zitat anspielt, räumt sein spätes Bedauern über die Radikalität ein, sich die Heimat verboten zu haben, eine Härte, die sich zerstörerisch auf sein lyrisches Schaffen ausgewirkt hat:

»Ich muß gestehen, daß ich anfangs seiner (Bobrowskis) Lyrik schroff ablehnend gegenüber stand, ja in ihr etwas Unerlaubes gesehen habe: das Wachhalten, vielleicht sogar Wiedererwecken von Gefühlen, die aussterben mußten, Sentiments der Erinnerung an die Nebelmorgen hinter der Weichsel und den süßen Ruf des Vogels Pirol... Ich hatte wohl eine ehrenhafte, aber sehr enge Auffassung vom Bewältigen der Vergangenheit, und ich bin dem eigenen Lied auf die Kehle getreten. Doch aus der Geschichte läßt sich nichts tilgen, kein einziger Aspekt und kein einziges Gefühl [...]. Nicht ein ›Es war nie gewesen‹ und auch nicht ›Als ob es nie gewesen wäre‹, sondern nur ›Es war so und ist vorbei‹ ist der sichere Grund, ein Neues zu bauen.«

(Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens, Rostock 1973, S. 139)

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Heimatlos

Elliger, Katharina:
Und tief in der Seele das Ferne,
Rowohlt Taschenbuch Verlag 2004
Foto: © buchhandel.de
Katharina Elliger, Studienrätin und Verfasserin des Buches Und tief in der Seele das Ferne (2004), beschreibt ihre Erinnerungen an Flucht und Vertreibung aus Niederschlesien als vierzehnjähriges Mädchen. Ihrem Buch stellt sie als Motto ein Zitat von Fritz Stern voran: »Und doch, vor einigen Jahren in einem deutschen Interview gefragt: ›Was fällt Ihnen bei dem Wort Heimat ein‹, gab ich die mich völlig überraschende sofortige Antwort: ›Heimatlos.‹«

Trotz ihrer beruflichen und familiären Integration in der neuen westdeutschen Heimat kommt also diese als Jugendliche vertriebene Frau im Alter zu der Erkenntnis, dass sie eigentlich heimatlos ist. Dies ist ein Grundgefühl, das sicherlich bei vielen Vertriebenen vorherrscht, wenngleich die Heimatlosigkeit vermutlich oft mehr dunkel und unangenehm geahnt als reflektiert wurde und wird. Sie wurde und wird als ein untergründiges Missbehagen, doch nie ganz dazuzugehören, zwar gespürt, aber kaum ausgesprochen, betrauert und dann, im besten Falle, zu einer neuen, produktiven Identität gemacht. Oft aber wird das Gefühl der Heimatlosigkeit peinlich und demütig verschleiert. Nur wenige können sich dieser Erkenntnis stellen, nicht nur heimatlos zu sein, sondern – bei allen rastlosen Integrationsversuchen – sogar heimatlos geblieben zu sein, oder das Heimatlosigkeitsgefühl auf die eigenen Kinder übertragen zu haben. Viele Vertriebene konnten auch in den Vertriebenenverbänden keine neue Heimat finden, da diese ihnen als künstlich (wie sagte eine Vertriebene? »Solche Trachten habe ich in Schlesien nie gesehen!«) oder als rückwärtsgewandt erschienen.


Heimatlos oder Heimat wie ein Flickenteppich, ein bisschen die eigene Kindheit im Westen, ein bisschen die Heimat der Eltern, ein bisschen der Ort, an dem man jetzt lebt, bezeichnenderweise ist es Berlin – so beschreibt es ein Vetriebener der zweiten Generation, ein Adliger, dessen Familie alle Besitzungen in Schlesien verloren hat und dessen Eltern nie so ganz angekommen sind im Westen. Er selbst leidet sehr unter dem unbestimmten Heimatgefühl, das auf den Heimatverlust folgt, und ist davon so sehr geprägt, dass sich sein Leben ebenso unbestimmt und schwankend gestaltet. Er sagt, dass er sich selbst gerne provokativ, aber durchaus nicht nur ironisch, als Schlesier bezeichnet. Sein Bruder, der beruflich und familiär besser Tritt gefasst hat und sich vordergründig nicht so sehr für die schlesischen Wurzeln interessiert, lässt plötzlich verlauten, er wolle später einmal in Schlesien, in ihrem Herkunftsort, bestattet werden. So, als wisse er, wohin er am Ende gehöre, so, als könne er schließlich nach Hause kommen.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 25. Oktober 2010

Vexierbilder

Beispiel sieben: Ein Lehrer, Ende der fünfziger Jahre im Ruhrgebiet geboren, beide Eltern aus Schlesien stammend, lebt heute in Hessen. Sein Interesse an Schlesien und den östlichen Regionen war bislang gering. Auf die Frage nach Heimat antwortet er, dass es auf keinen Fall Hessen und natürlich auch auf keinen Fall Schlesien, wo er noch nie war, sei. Am ehesten noch das Ruhrgebiet seiner frühen Kindheit, obwohl er auch da immer das Gefühl gehabt habe, nicht hundertprozentig dazuzugehören. Dennoch sei das die Gegend, die ihn, wenn überhaupt, am heimatlichsten berühren würde, da er dort das Gefühl hätte, sich auszukennen und "am leichtesten durchzukommen".

Beispiel acht: Ein Übersetzer und Lyriker, Anfang der fünfziger Jahre in Westfalen geboren, ein Elternteil aus Ostpreußen stammend, hat wenig Bezug zu seinem westfälischen Geburtsort. Eher noch bezeichnet er das ostpreußische Dorf seiner Mutter als seine Heimat. Er lebt in Berlin und begründet die Wahl seines Wohnorts damit, dass Berlin die östlichste Stadt in Deutschland ist und er daher dort der Heimat seiner Mutter am Nächsten sei. Er spricht über die "Ungewissheit einer Heimat" und gibt sein Heimatgefühl als ein gebrochenes an. Nach langem Nachdenken kommt er zum Schluss, dass er sich auf keinen Fall als Westfale, sondern als Ostpreuße fühle, ja, dass er Ostpreuße sei.

Vexieren heißt quälen. Was geschieht Kindern, die derartig, also weit über das normale Maß hinaus, mit Projektionen, Sehnsüchten, Übertragungen, Verlusterfahrungen, Träumen und Schmerzen ihrer Eltern beladen werden? Bei einer gewisen Sensibilität erachten sie ihre eigene Kindheit für viel weniger bedeutend als all die Geschichten, die sie immer wieder mythengleich hören, die schwerer wiegen, die gewichtiger sind. Das ist keine absichtliche Quälerei, keine Boshaftigkeit. Im Gegenteil. Die Eltern wollen ihren Kindern etwas von sich, von ihrem verlustreichen, verlustgeprägten Leben mitgeben, sie wollen, dass das Verlorene weiterlebt. Die beiden Extreme, die sich daraus entwickeln können, lauten: entweder wollen die erwachsenen Kinder gar nichts mehr davon wissen, oder sie wollen nur noch davon wissen, eins so schwierig, so quälend, wie das andere.


Seit den neunziger Jahren erstreckt sich die Traumaforschung in der Psychologie zunehmend auch auf die Erlebnisse und Erfahrungen der Vertriebenen und ihrer Kinder. Psychische Störungen (das sogenannte posttraumatische Belastungssyndrom), Krankheiten, Depressionen und allgemeine Lebensprobleme werden mit diesen Erfahrungen in Verbindung gebracht. Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Publikationen von Helga Hirsch, "Schweres Gepäck" (2004), oder von Astrid von Friesen, "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die zweite Generation deutscher Vertriebener" (2000). Diese Ansätze sind gerechtfertigt und sinnvoll. Und doch sollte hier an dieser Stelle keine Syptomerforschung im Vordergrund stehen, sondern eher einfach danach gefragt werden, wie es Vertriebenen und ihren Nachfahren gelingt, den Heimatverlust auszuhalten, wie sie darauf reagieren, welche manchmal sehr verschlungenen Wege sie gehen, den Verlust zu überwinden oder zumindest zu lindern. Und, wenn sie sich selbst für heimatlos halten, wie sie diese schonungslose Diagnose aushalten können, ja, ob sie es vielleicht sogar schaffen, sie produktiv umzumünzen.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.