Donnerstag, 28. Oktober 2010

Heimatlos

Elliger, Katharina:
Und tief in der Seele das Ferne,
Rowohlt Taschenbuch Verlag 2004
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Katharina Elliger, Studienrätin und Verfasserin des Buches Und tief in der Seele das Ferne (2004), beschreibt ihre Erinnerungen an Flucht und Vertreibung aus Niederschlesien als vierzehnjähriges Mädchen. Ihrem Buch stellt sie als Motto ein Zitat von Fritz Stern voran: »Und doch, vor einigen Jahren in einem deutschen Interview gefragt: ›Was fällt Ihnen bei dem Wort Heimat ein‹, gab ich die mich völlig überraschende sofortige Antwort: ›Heimatlos.‹«

Trotz ihrer beruflichen und familiären Integration in der neuen westdeutschen Heimat kommt also diese als Jugendliche vertriebene Frau im Alter zu der Erkenntnis, dass sie eigentlich heimatlos ist. Dies ist ein Grundgefühl, das sicherlich bei vielen Vertriebenen vorherrscht, wenngleich die Heimatlosigkeit vermutlich oft mehr dunkel und unangenehm geahnt als reflektiert wurde und wird. Sie wurde und wird als ein untergründiges Missbehagen, doch nie ganz dazuzugehören, zwar gespürt, aber kaum ausgesprochen, betrauert und dann, im besten Falle, zu einer neuen, produktiven Identität gemacht. Oft aber wird das Gefühl der Heimatlosigkeit peinlich und demütig verschleiert. Nur wenige können sich dieser Erkenntnis stellen, nicht nur heimatlos zu sein, sondern – bei allen rastlosen Integrationsversuchen – sogar heimatlos geblieben zu sein, oder das Heimatlosigkeitsgefühl auf die eigenen Kinder übertragen zu haben. Viele Vertriebene konnten auch in den Vertriebenenverbänden keine neue Heimat finden, da diese ihnen als künstlich (wie sagte eine Vertriebene? »Solche Trachten habe ich in Schlesien nie gesehen!«) oder als rückwärtsgewandt erschienen.


Heimatlos oder Heimat wie ein Flickenteppich, ein bisschen die eigene Kindheit im Westen, ein bisschen die Heimat der Eltern, ein bisschen der Ort, an dem man jetzt lebt, bezeichnenderweise ist es Berlin – so beschreibt es ein Vetriebener der zweiten Generation, ein Adliger, dessen Familie alle Besitzungen in Schlesien verloren hat und dessen Eltern nie so ganz angekommen sind im Westen. Er selbst leidet sehr unter dem unbestimmten Heimatgefühl, das auf den Heimatverlust folgt, und ist davon so sehr geprägt, dass sich sein Leben ebenso unbestimmt und schwankend gestaltet. Er sagt, dass er sich selbst gerne provokativ, aber durchaus nicht nur ironisch, als Schlesier bezeichnet. Sein Bruder, der beruflich und familiär besser Tritt gefasst hat und sich vordergründig nicht so sehr für die schlesischen Wurzeln interessiert, lässt plötzlich verlauten, er wolle später einmal in Schlesien, in ihrem Herkunftsort, bestattet werden. So, als wisse er, wohin er am Ende gehöre, so, als könne er schließlich nach Hause kommen.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 25. Oktober 2010

Vexierbilder

Beispiel sieben: Ein Lehrer, Ende der fünfziger Jahre im Ruhrgebiet geboren, beide Eltern aus Schlesien stammend, lebt heute in Hessen. Sein Interesse an Schlesien und den östlichen Regionen war bislang gering. Auf die Frage nach Heimat antwortet er, dass es auf keinen Fall Hessen und natürlich auch auf keinen Fall Schlesien, wo er noch nie war, sei. Am ehesten noch das Ruhrgebiet seiner frühen Kindheit, obwohl er auch da immer das Gefühl gehabt habe, nicht hundertprozentig dazuzugehören. Dennoch sei das die Gegend, die ihn, wenn überhaupt, am heimatlichsten berühren würde, da er dort das Gefühl hätte, sich auszukennen und "am leichtesten durchzukommen".

Beispiel acht: Ein Übersetzer und Lyriker, Anfang der fünfziger Jahre in Westfalen geboren, ein Elternteil aus Ostpreußen stammend, hat wenig Bezug zu seinem westfälischen Geburtsort. Eher noch bezeichnet er das ostpreußische Dorf seiner Mutter als seine Heimat. Er lebt in Berlin und begründet die Wahl seines Wohnorts damit, dass Berlin die östlichste Stadt in Deutschland ist und er daher dort der Heimat seiner Mutter am Nächsten sei. Er spricht über die "Ungewissheit einer Heimat" und gibt sein Heimatgefühl als ein gebrochenes an. Nach langem Nachdenken kommt er zum Schluss, dass er sich auf keinen Fall als Westfale, sondern als Ostpreuße fühle, ja, dass er Ostpreuße sei.

Vexieren heißt quälen. Was geschieht Kindern, die derartig, also weit über das normale Maß hinaus, mit Projektionen, Sehnsüchten, Übertragungen, Verlusterfahrungen, Träumen und Schmerzen ihrer Eltern beladen werden? Bei einer gewisen Sensibilität erachten sie ihre eigene Kindheit für viel weniger bedeutend als all die Geschichten, die sie immer wieder mythengleich hören, die schwerer wiegen, die gewichtiger sind. Das ist keine absichtliche Quälerei, keine Boshaftigkeit. Im Gegenteil. Die Eltern wollen ihren Kindern etwas von sich, von ihrem verlustreichen, verlustgeprägten Leben mitgeben, sie wollen, dass das Verlorene weiterlebt. Die beiden Extreme, die sich daraus entwickeln können, lauten: entweder wollen die erwachsenen Kinder gar nichts mehr davon wissen, oder sie wollen nur noch davon wissen, eins so schwierig, so quälend, wie das andere.


Seit den neunziger Jahren erstreckt sich die Traumaforschung in der Psychologie zunehmend auch auf die Erlebnisse und Erfahrungen der Vertriebenen und ihrer Kinder. Psychische Störungen (das sogenannte posttraumatische Belastungssyndrom), Krankheiten, Depressionen und allgemeine Lebensprobleme werden mit diesen Erfahrungen in Verbindung gebracht. Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Publikationen von Helga Hirsch, "Schweres Gepäck" (2004), oder von Astrid von Friesen, "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die zweite Generation deutscher Vertriebener" (2000). Diese Ansätze sind gerechtfertigt und sinnvoll. Und doch sollte hier an dieser Stelle keine Syptomerforschung im Vordergrund stehen, sondern eher einfach danach gefragt werden, wie es Vertriebenen und ihren Nachfahren gelingt, den Heimatverlust auszuhalten, wie sie darauf reagieren, welche manchmal sehr verschlungenen Wege sie gehen, den Verlust zu überwinden oder zumindest zu lindern. Und, wenn sie sich selbst für heimatlos halten, wie sie diese schonungslose Diagnose aushalten können, ja, ob sie es vielleicht sogar schaffen, sie produktiv umzumünzen.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 21. Oktober 2010

Varianten

Im letzten Blogeintrag wurden bereits zwei Beispiele genannt, wie sich die zweite Generation der deutschen Vertriebenen gegenüber der alten und der neuen Heimat der Eltern oder eines Elternteils verhält. Es folgen weitere.

Beispiel drei: Ein Schriftsteller, noch in Schlesien geboren, kam mit einem Jahr in die DDR bzw. die SBZ, wo er als Kind durchaus die Ausgrenzung der Vertriebenen erlebte. Nach seiner Identität befragt, bezeichnet er sich als Schlesier qua Geburtsort, nimmt dann wieder Distanz dazu ein, um sich aber plötzlich für die unfreiwillig komische schlesische Dichterin Friderike Kempner - "das kann nur ein Schlesier verstehen" - und für den niederschlesischen Komiker Lommel und seinen Sender Runxendorf zu begeistern. Er kennt und schätzt also den niederschlesischen Dialekt, um sich im gleichen Atemzug wieder davon zu distanzieren: es sei schließlich ganz normal, dass jeden Tag so und so viele Sprachen aussterben, da sei das Verschwinden des niederschlesischen Dialekts auch nichts besonderes. Bezüglich seines Heimatgefühls bleibt er schwankend, hin- und hergezogen zwischen Nähe und Ferne, Anziehung und Abstoßung.

Beispiel vier: Eine Lehrerin, um 1950 in Niedersachsen geboren und dort auch beruflich und familiär verwurzelt, bezeichnet Schlesien als ihre Heimat, da ihre Mutter von dort stammt. Sie selbst lässt sich dem Grünenmilieu zurechnen. Da die ganze Familie mit Kindern und Enkeln seit vielen Jahren jedes Jahr auf familiären Spuren eine Reise ins Riesengebirge unternimmt, ist ihr diese Landschaft, dieser Landstrich sehr vertraut geworden, und sie hält sie, obwohl sie kein polnisch versteht, für ihre wahre Heimat. Jedenfalls fühlt sie sich dort viel heimatlicher verwurzelt als in ihrem eigenen Geburtsort in Niedersachsen.

Beispiel fünf: ein Lyriker und Übersetzer, geboren um 1960 in der DDR, der von Vertriebenen aus Schlesien und Danzig abstammt. Durch seinen schlesischen Großvater, der in der DDR im privaten Rahmen schlesischen Dialekt sprach, über die neue Zeit klagte und sich nicht anpasste, erfuhr er viel über Schlesien. Zu Hause wurde schlesisch gekocht und gelästert. Seine Mutter allerdings überassimilierte sich im neuen Gesellschaftssystem. In den achtziger Jahren reiste er nach West-Berlin aus. Auf die Frage, was für ihn Heimat sei, sagt er wie aus der Pistole geschossen: "Die Motetten von Bach und die deutsche Sprache". Keine Stadt, keine Region kommt für ihn als Heimat in Frage, im Zweifelsfall höchstens Berlin.

Beispiel sechs: Eine Funktionärin des BDV (Bund der Vertriebenen), 1945 noch in Westpreußen geboren, bis die Familie kurz darauf vertrieben wurde. In Westdeutschland wächst sie mit einem Gefühl der Heimat- und Wurzellosigkeit auf. Ihre eigene Kindheit kommt ihr nicht so bedeutsam vor wie die westpreußische Heimat, die in den Erzählungen ihrer Eltern entsteht. Zwischenzeitlich wandert sie nach Amerika aus, kehrt aber nach Deutschland zurück. Heute empfindet sie die westpreußische Landschaft, die, wie sie selbst erzählt, von ihren Vorfahren in zig Generationen kultiviert wurde, wohlgemerkt nur die Landschaft, als ihre Heimat. Die neuen Bewohner allerdings bleiben ihr fremd.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Dienstag, 19. Oktober 2010

Amputierte Erinnerung?

Wie verhält es sich nun mit der zweiten Generation der deutschen Vertriebenen? Auch hier sind die Möglichkeiten, sich gegenüber der alten und der neuen Heimat der Eltern oder eines Elternteils zu verhalten, sehr unterschiedlich.

Beispiel eins: Ein Jurist mit einem Elternteil aus Schlesien und ein Ingenieur, dessen Eltern beide aus Schlesien stammten, beide um 1960 im Rheinland geboren, reagieren durch Überassimilation auf ihre neuen Wohnorte, der eine weiterhin im Rheinland, der andere im Badischen. Ihr Verhalten zeichnet sich durch Übersprungshandlungen aus. So übernehmen sie den lokalen Dialekt, den sie von ihren Eltern nie gehört haben, und die Lebensgewohnheiten der Region. Sie treten in Vereine ein und mutieren zum Superkölner bzw. zum Superbaden. Sie haben keinerlei Bezug zur Herkunft der Eltern oder Elternteile. Schon die östliche Lage Berlins wirkt auf sie beunruhigend, und alles, was östlich von Berlin liegt, geradezu bedrohlich. Sie bemühen sich stark um eine für sie neue, westlich ausgerichtete landmannschaftliche Prägung, da ja für die meisten Deutschen der Bezug zur Region und das Gefühl, dazuzugehören sehr wichtig ist. Sie wollen auch von "do" sein, sich heimatlich fühlen, so, als wären sie schon ganz lange da.

Heimat - ist dieser Begriff überhaupt zulässig? Ist er nicht zu antiquiert, zu verstaubt, zu ungut, zu belastet? Sollte man gerade heutzutage - Globalisierung! - nicht nüchterner über diese Dinge, die Herkunft, die Zugehörigkeiten sprechen? Es scheint aber doch so, dass die meisten Menschen traditioneller, beharrender, bewahrender veranlagt sind. Uwe Johnson spricht in seinen Jahrestagen vom "Weltdorf New York". Und schon im Faust weiß Mephisto: "Es ist doch lange hergebracht, daß in der großen Welt man kleine Welten macht." Anscheinend sehnen sich die Menschen neben ihrer ganzen weltweiten Offenheit auch immer wieder nach überschaubareren Einheiten und Gebilden, nach Eintauchen in die warme Badewanne des Bekannten. Interessant ist es zu beobachten, dass in den letzten Jahren immer wieder Romane auf den Buchmarkt kommen, deren Untertitel "Heimatroman" lauten (Gert Jonke, Jens Sparschuh, Andreas Maier u. a.), die selbst in ihrer ironischen Gebrochenheit und Reflektiertheit auf ein Heimatgefühl verweisen. Die kühlsten, nüchternsten und analytischsten Menschen werden bei der Frage nach ihrer Heimat weich. Die wenigsten weisen eine solche Frage schroff zurück.

Beispiel zwei: Ein Liedermacher mit einem Elterteil aus Schlesien, um 1950 in Berlin geboren und aufgewachsen. Er zählt sich dem linksliberalen Milieu in Folge der Studentenbewegung zu. Die Vertriebenenthematik beäugt er skeptisch bis misstrauisch. Seit einiger Zeit begeistert er sich für Osteuropa. Er reist nach Polen und in die Ukraine. Als er in einem Huzulenhaus in den Bergen sitzt und dort die Trachten der westukrainischen Huzulen, der Bewohner der Karpaten, betrachtet, erinnert er sich plötzlich beim Bloggen unwillkürlich an die Trachten seiner schlesischen Mutter und an ihre Trauer, dass in Bayern niemand mehr ihre schlesischen Trachten sehen, geschweige denn tragen wollte, und dass die Nachfahren die schlesischen Bräuche nicht pflegten. Erst in der unverfänglich scheinenden Fremde ist es ihm möglich, etwas Unterdrücktes, etwas Abgewehrtes zuzulassen.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Abwehrreflexe

Vielleicht rührte die Abwehr der angestammten Bevölkerung gegenüber den Vertriebenen von einer Art Geschichtshygiene nach dem Zweiten Weltkrieg her. Diese zeigte sich auch in der Abrisstätigkeit, die nach dem Krieg in den deutschen Städten herrschte und die bis heute wirksam ist. Angeblich wurde Platz gebraucht für Fußgängerzonen, Autobahnen, Parkhäuser oder fortschrittliche sozialistische Architekturen und Magistralen. Aus dem Abstand betrachtet will es jedoch so scheinen, dass geschichtlicher Ballast abgeworfen werden sollte, um frei und ungebunden in eine moderne Zukunft entfliehen zu können. Sehr schnell waren die Spuren des Krieges in Westdeutschland getilgt und von Neubauten ungeschehen gemacht worden. Jüngste, unangenehme Geschichte vermutete man höchstens - unbewusst kollektiv und amorph - Richtung Osten. Auch daher rührte die große Reserve, das Misstrauen den Vertriebenen gegenüber, diesen Ungebetenen, Sandsackschweren, denn ihnen haftete sozusagen die düstere jüngste deutsche Geschichte noch an, sie waren lebendige Zeugnisse einer großen Schuld, die alle Deutschen hätte angehen müssen, wären sie nicht mit Wiederaufbau und Verdrängung befasst gewesen. Vielfach gab es einen doppelten Abwehrmechanismus. Man verschloss in den fünfziger und sechziger Jahren die Augen vor der deutschen Schuld, an die man sich durch die Fremden aus dem Osten unbewusst erinnert fühlte, und brachte oft wenig Mitleid auf für das Schicksal dieser Menschen, die alles verloren hatten, weil die eigenen Verluste ebenfalls schmerzten und auch weil viele in den Vertriebenen zu Recht Bestrafte sahen. Denn wer so bestraft worden war, musste wohl auch große Schuld auf sich geladen haben. Was ging einen das in München, in Stuttgart, in Hannover, in Köln, in Frankfurt, in Hamburg, in Rostock, in Dresden, in Leipzig und in Berlin an. Anders ausgedrückt: Zu der Ablehnung, die man ohnehin den Fremden aus dem Osten entgegenbrachte, die nun ebenfalls Platz und Nahrung beanspruchten, gesellte sich ein merkwürdiges Konglomerat aus antiöstlichen Ressentiments und verdrängten Schuldgefühlen. Es war bequem, in ihrem Schicksal die gerechte Strafe für besonders große Schuld zu sehen, nämlich für die Kriegsverbrechen und die Vernichtung der Juden, die ja vor allem da hinten im Osten stattgefunden hatte. Den Gestraften konnten man im Nachhinein das eigene schlechte Gewissen guten Gewissens aufladen. Tatsächlich stimmt diese Schuldkonstruktion nicht mit der historischen Realität überein, denn die neuen Grenzen, wie sie von den Alliierten in Teheran, Jalta und Potsdam erwogen worden waren und beschlossen wurden, waren Resultate machtpolitischer Erwägungen und nicht etwa moralischer Betroffenheit. Nicht Auschwitz stand zur Debatte, sondern Deutschland als kriegsverbrecherischer Kriegsverlierer.

Um es ganz einfach zu sagen: die Vertriebenen haben den gleichen Anteil an der deutschen Schuld wie alle anderen Deutschen. Aber ihr Anteil ist nicht, wie gerne unterstellt wird, größer als der der Nicht-Vertriebenen.

Diese Abwehrreflexe sind noch 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wirksam. Anders lassen sich die aufgepeitschten Debatten um das Sichtbare Zeichen - Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung nicht erklären. Die Emotionen, die auf allen Seiten damit verbunden sind, zeigen deutlich, dass es sich hier um etwas nach wie vor Unerledigtes handelt, dass dieses Kapitel immer noch nicht abgeschlossen ist.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 11. Oktober 2010

Rückwärtsgewandt oder mitgemacht

Ein »Wohl-oder-übel-Gefühl«, das »Zusammenfügen und halbwegs friedliche Zusammenleben von Heterogenem« – mehr, so Robert Traba am Ende des letzten Eintrags nüchtern, könne man nach den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts vom Begriff »Heimat« nicht verlangen.

Wie ist es umgekehrt mit den deutschen Vertriebenen? Hier verhält es sich nun nicht zwingend spiegelverkehrt zu den polnischen Erfahrungen, wie sonst immer für die Westverschiebung mit der doppelten Vertreibungsbewegung - die Ostdeutschen kamen nach Westen, die Ostpolen nach Schlesien, Pommern und Ostpreußen - angenommen wird. Bei der Frage nach der heimatlichen Verwurzelung der deutschen und polnischen Vertriebenen, auch der zweiten Generation, hapert es mit den strukturellen Ähnlichkeiten. Denn die deutschen Vertriebenen kamen ja nicht in leere und fremde Gebiete, sondern in kulturell nicht ganz so fremde und vor allem besiedelte Gebiete, in denen die Angestammten ihre Rechte auf Angestammtsein deutlich bis sehr deutlich bekundeten. Wie groß die Abwehr, die Ablehnung der Vertriebenen durch die ansässige Bevölkerung war, beschreibt Andreas Kossert eindrucksvoll in seinem Buch Kalte Heimat.

Kossert, Andreas: Kalte Heimat,
WJ Siedler Verlag 2008
Foto: © buchhandel.de
Schon die erste Generation der Vertriebenen reagierte sehr unterschiedlich auf den erzwungenen Heimatverlust. Vermutlich gab es so viele, individuell unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten auf die Vertreibung, wie es Vertriebene gab. Und doch lassen sich auch immer wieder strukturelle Ähnlichkeiten in bestimmten Gruppen erkennen. So lehnten häufig ganz alte Leute und Bauern den neuen, zufälligen Ort ab, an den man sich mit einem Mal ungewollt wiederfand, ja, sie verweigerten sich ihm gegenüber geradezu. Gerade Bauern oder auch Gutsbesitzer, die Land besessen hatten, verharrten verständlicherweise gern in der Vorstellung der verlorenen Heimat, wo sie etwas hatten und waren, während im Westen das Land seit altersher unter den Einheimischen aufgeteilt war. Das stellte sich kurzzeitig in der DDR durch Bodenreform und Neusiedlerbewegung anders da, dort bekamen auch die Vertriebenen Land zugesprochen, verloren es jedoch durch die Kollektivierung der Landwirtschaft wieder. Diese nicht anpassungswillige Gruppe beharrte auf ihrer Mundart, ihren traditionellen Speisen, ihrer religiösen Ausprägung und auf den alten Geschichten aus der verlorenen Heimat, die so oft erzählt wurden, dass sie sich langsam zu mythischen Stoffen zu verdichten begannen. Sie wussten, wo ihre Heimat war. Diese aber war verloren. Das hatte Zorn, Trauer und Melancholie zur Folge.

Eine solche Gruppe der Vertriebenen gab es übrigens auch in Polen, beschrieben vom polnischen Autor Adam Zagajewski in seinem Essay Zwei Städte. Darin entwirft Zagajewski ein Panoptikum älterer, aus Lemberg vertriebener Polen, die sich nach 1945 ungewollt im ehemals deutschen Gleiwitz wiederfanden - miniaturenhafte Kabinettstückchen der Integrationsverweigerung.

Eine entgegengesetzte Möglichkeit der deutschen Vertriebenen, auf die neuen Verhältnisse zu reagieren, bestand in Überassimilation. Im extremsten Fall wurde die Herkunft verleugnet, da mit ihr in beiden Teilen Deutschlands kein Staat zu machen war, im etwas weniger extremen Fall wurde sie zumindestens nach außen verschwiegen (und die mythischen Stoffe nur nach innen, innerhalb der Familie weitergegeben). Auch das ist verständlich. Denn die Vertriebenen wollten nicht auffallen, und wenn, dann nur durch Tüchtigkeit und moralische Integrität. Sie waren um ein besonders gutes Deutsch bemüht, um den Vorwurf, die Leute aus dem Osten seien ja sowieso alle "Polacken", gar nicht erst aufkommen zu lassen. Sie bemühten sich, ihre Kinder vorbildlich zu erziehen, um nicht anzuecken. Sie suchten nach den Werten, die in den jeweiligen Gesellschaftsystemen etwas zählten. Das konnte im Westen ein durch unglaublichen Fleiß errungener guter Beruf sein, in dem man durch besondere Tüchtigkeit auffiel, und der Bau eines Hauses durch äußerste Sparsamkeit und Versagungen. In der DDR konnte es die SED-Mitgliedschaft sein und damit verbunden ideologische Überkorrektheit. Ob Bundesrepublik oder DDR: man war genug gedemütigt worden, hatte den Besitz-, den Status- und, was am schwersten wog, den Heimatverlust erlitten, nun wollte man in der neuen Heimat endlich mitmachen, einen Platz besetzen, nach vorne schauen - schon für seine Kinder.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Montag, 4. Oktober 2010

Neue Heimat

Was fragte neulich ein junger polnischer Wissenschaftler in Kreisau? Ob in Deutschland der schlesische, also der nieder- und mittelschlesische Dialekt noch viel gesprochen würde? Die Antwort, dass dieser Dialekt so gut wie ausgestorben sei, empfand er als traurig, »denn wir wollen doch wissen, wie die Leute, die früher hier gelebt haben, gesprochen haben.«

Die Breslauer Bürgerschaft als ganze entwickelt immer stärker einen Lokalpatriotismus, der der vergangenen Zeiten nicht nur eingedenk ist, sondern sie sogar als das Eigene einzugemeinden versteht. So waren neulich im Bremer Kunsthandel sehr wertvolle schlesische Silberschmiedearbeiten aus dem 17. Jahrhundert aufgetaucht. Der Breslauer Bürgermeister wollte sie erwerben, es fehlte ihm jedoch an Geld. Gerade die Hälfte konnte er zur Verfügung stellen. Dann startete er zusammen mit der Gazeta Wyborcza einen Aufruf an die Breslauer Bürgerschaft, an Firmen, Unternehmen, Einrichtungen und Privatpersonen, für den Erwerb des schlesischen Kunsthandwerks Gelder aufzubringen und zu sammeln. Tatsächlich bekamen sie die 1, 3 Millionen Euro zusammen, um die Kunstgegenstände erwerben zu können, um sie nun stolz in ihrem Stadtmuseum zu präsentieren, »denn sie gehören doch in unser Breslau.«

Gedenktafel für Max Herrmann-Neiße
am Berliner Kurfürstendamm
Foto: de.wikipedia.org
Junge Studenten interessieren sich für den so lange ausgesparten Hohlraum der deutschen Geschichte der Stadt und der Region Schlesien, sie unternehmen freiwillig im Sommer Exkursionen zu den Festungsbauten Friedrichs II., empfinden ein Gedicht von Max Herrmann-Neiße (aus dem schlesischen Neiße), »Breslauer Winternacht«, als das schönste Gedicht über Breslau, erobern sich ihre Stadt auf den Spuren Edith Steins, schlüpfen also sozusagen in die Rolle von Deutschen, die in der Vergangenheit herumsuchen, und werden dann auch passenderweise vor der Schule von Edith Stein von aus den Fenstern schauenden Anwohnern als »niemcy, niemcy!«, also als Deutsche tituliert. Sie freuen sich über einen literarisch gar nicht bedeutenden Text aus dem 19. Jahrhundert, der eine Gegend im Norden der Stadt als Verbrechergegend beschreibt, da sie feststellen, dass auch heute dieses Stadtviertel keinen guten Ruf hat. Ihre Freude gilt der Unverwüstlichkeit eines - wenn auch negativen - genius loci, der trotz Vertreibung und Neubesiedlung in der Stadt wirksam sein muss. Und ein polnischer Student, der in Breslau geboren ist und erst ganz normal, also ungebrochen, dort aufwuchs, erzählte, dass ihm im Alter von siebzehn Jahren die Stadt mit ihrer anderen Architektur und Geschichte plötzlich fremd wurde. Es habe erst des Oderhochwassers 1997 bedurft, dass er sich im Kontakt mit den Sandsäcken, den Steinen, dem Wasser, also durch eine Art haptischen Kontakt der Stadt vergewisserte und seither durch die konkrete Rettung der Stadt ein neues Heimatgefühl Breslau gegenüber verspüre. Ob durch die archäologische Rekonstruktion deutsch-antiker Schichten mittels des Kommissars Eberhard Mock, ob durch detektivische Stadtspaziergänge, ob durch den Erwerb schlesischer Kunstgegenstände oder durch den direkten Kontakt mit der städtischen Substanz beim Oderhochwasser - all diese Möglichkeiten dienen dazu, aus der fremden Stadt, der fremden Region eine vertraute Stadt, ein vertrautes Land zu machen, eine heimatliche Verwurzelung ohne Amputation und Amnesie.

Das ist ein emphatischer Begriff von Heimat. Der polnische Historiker und Kulturwissenschaftler Robert Traba hingegen verficht einen viel nüchterneren, wie er sagt moderneren Heimatbegriff. Seine Erfahrung von Heimat, allerdings nicht in Breslau, sondern im Masurischen, sei, dass verschiedene nationale bzw. ethnische Gruppen, die sich durch die Zeitläufte mehr oder weniger unfreiwillig in einer Region einfanden, die zusammengewürfelt sind, es miteinander aushalten müssen. Heimat ist für ihn ein Wohl-oder-übel-Gefühl, es ist das Zusammenfügen und halbwegs friedliche Zusammenleben von Heterogenem, so von Ukrainern, Masuren und Polen an einem Ort. Mehr, so meint Robert Traba nüchtern, kann man nach den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts von Heimat nicht verlangen.