Montag, 29. November 2010

Allerheiligen

Hedwigsfriedhof
Nur zu Allerheiligen tummeln sich die Angehörigen etlicher Verstorbener auf den katholischen Friedhöfen Berlins. Viel mehr rote Grabkerzen als sonst üblich brennen an diesem katholischen Feiertag. Einige Gräber auf dem Hedwigsfriedhof, meistens polnische oder oberschlesische, sind mit Kerzen, Grableuchten und Laternen geradezu überhäuft, kleinen flackernden Inseln gleich, die sich gegen das graue Licht des Novembers anstemmen. Hastig werden gelbe Ahorn- und Buchenblätter von den Gräbern geharkt, die sich bislang auf alle Gräber und Wege gleichmäßig verteilt hatten. In das Geraschel der Blätter mischt sich regelmäßig das Gezischel der S-Bahn. Dann wird es stiller. Noch wölben sich die orangegelben Hauben der Trauerbuchen über den Gräbern. Nach ein, zwei Herbststürmen werden sie kahl sein. Dann wird der Schnee kommen und der Frost. Die eine oder andere Grabstätte wird durch den kommenden Winter, durch Kälte und Frost beschädigt, gesprengt, verwittert. Schon jetzt rutschen manche Grabaufbauten ab und zerfallen. Die Krähen werden sich auf den kahlen Ästen niederlassen als schwarze, ungenießbare Winterfrüchte.

Leider ist es nicht üblich, auf Grabsteinen den Geburtsort zu verzeichnen. Dabei sind es auf dem Hedwigsfriedhof 2 an der Smetanastraße in Berlin-Weißensee sicher weit über fünfzig Prozent der Bestatteten, die aus Schlesien stammen. Man erkennt es an den Namen. Die typisch mittel-niederschlesischen Namen wie Witzel, Giesel, Wenzel, Zobel sind dabei weniger stark vertreten als typisch oberschlesische Namen wie Knossalla, Cimbollek, Skrobotz, Kaluza, Kamionka, Czwak, Kudelka, Tlach, Laschewski, Woitrik, Smala, Przyniczynski, die meisten im ausgehenden 19. Jahrhundert geboren. Es ist ein unspektakulärer Friedhof. Aber er zeugt von der Arbeitsmigration aus Schlesien nach Berlin um 1900. Viele der Ankömmlinge versuchten, dem sozialen Elend der schlesischen Viertel um den Schlesischen Bahnhof und das Schlesische Tor herum zu entgehen. Viele siedelten sich in Weißensee an. Auch dieser Friedhof wird zu Allerheiligen mit vielen roten Grabkerzen geschmückt und leuchtet still in seiner Abgeschiedenheit.

Hedwigsfriedhof im November
Weniger romantisch ist der Hedwigsfriedhof 3 an der Ollenhauerstraße in Reinickendorf gelegen. Im Dreiminutentakt schwebt ein Flugzeug nach anderen geräuschvoll und riesig herab, um auf dem nahen Flughafen Tegel zu landen oder von dort zu starten und ebenso geräuschvoll wieder am Himmel zu verschwinden. Pfarrer Josef Lenzel ist dort begraben. 1890 in Breslau geboren, kümmerte er sich während des Zweiten Weltkriegs in seiner Pfarrei in Berlin-Niederschönhausen um die polnischen Zwangsarbeiter, half ihnen und betreute sie seelsorgerisch. 1942 wurde er von der Gestapo verhaftet und starb im selben Jahr im KZ Dachau. Drei Gedenktafeln und zwei Straßenbenennungen in der Stadt zeugen von seinem mutigen Wirken in Berlin. Auch ihm brennen zu Allerheiligen rote Lichter.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 25. November 2010

Hedwigsfriedhof 1

Der alte katholische Domfriedhof der Hedwigskathedrale an der Liesenstraße lag nach 1945 zwischen den östlichen und westlichen Machtblöcken, nach 1961 auf dem Todesstreifen, dem Vakuum des Kalten Krieges. Nach der Wende war er wieder allen zugänglich, aber gerupft, geplündert, vieler Gräber beraubt. Reste der Berliner Mauer umgrenzen ihn an der einen Seite, hohe Brandmauern und eine weite Wiese mit Gräbern des protestantischen Domfriedhofs an der zweiten Seite und Gräber des französisch-reformierten Friedhofs, darunter das Ehrengrab Theodor Fontanes, an der dritten Seite. Zwischen 1961 und 1989 waren diese Friedhöfe schwer bewacht, die Gräber, die genau im Mauerstreifen lagen, wurden entfernt, die Grabsteine teilweise dazu benutzt, einen Kolonnenweg für die Fahrzeuge der Grenzpatrouillen anzulegen.

Grabstein des Priesters Otto Scholz
im Hedwigsfriedhof
Der alte Domfriedhof der St. Hedwigsgemeinde an der Liesenstraße wurde 1834 geweiht und ist heute der älteste katholische Friedhof der Stadt. Da die Hedwigskathedrale vor allem für schlesische Katholiken, besonders für den Adel, errichtet worden war, fanden sich ursprünglich viele Gräber von Schlesiern auf dem ersten katholischen Friedhof am Oranienburger Tor, der heute nicht mehr existiert, da er von Wohnhäusern überbaut wurde. Doch auch auf dem Nachfolge-Friedhof an der Liesenstraße finden sich noch schlesische Spuren. Neben Gräbern von Rheinländern, Westfalen, Bayern, Österreichern, Franzosen, Italienern, Spaniern und Polen gibt es bzw. gab es auch immer wieder Gräber von Schlesiern. Durch die Zeitläufe verloren gegangen ist das Grab von Johannes Janda aus Kleindarkowitz bei Hultschin, eines klassizistischen Bildhauers im 19. Jahrhundert, der sowohl in Schlesien als auch in Berlin etliche Werke hinterließ, so die Heiligenfiguren für das katholische Hedwigskrankenhaus an der Hamburger Straße oder das Relief »Maria, dem Hl. Dominikus den Rosenkranz reichend« in der Pauluskirche in Moabit. Oder das Grab des einstmals berühmten Schauspielers Karl Seydelmann aus dem schlesischen Glatz, eines Freundes von Karl von Holtei. Oder das Grab des aus Schlesien stammenden Theologen, Domprobstes und NS-Widerstandskämpfers Bernhard Lichtenberg, das in die St. Hedwigskathedrale verlegt wurde. Doch auch heute noch finden sich Gräber von Schlesiern oder Personen, die maßgeblich mit Schlesien in Beziehung standen, Gräber von schlesischen Priestern aus Breslau, Lauban, Glatz oder das Grab des aus Rheine in Westfalen stammenden Franz Anton Egells, des Pioniers des modernen Maschinenbaus in Berlin am Oranienburger Tor, der 1829, um sich günstige Rohstoffe zu sichern, im schlesischen Reinerz eine Eisenhütte, die Egellshütte, erwarb. Bekannt wurde Egells auch dadurch, dass er zehn Jahre lang den jungen Schlesier August Borsig bei sich beschäftigte, bevor dieser sich noch erfolgreicher selbständig machte.

Der Hedwigsfriedhof im Herbst
Der Hedwigsfriedhof 1 an der Liesenstraße ist eine Oase der Zeitentrücktheit, die seiner besonderen Lage im Zentrum der weltpolitischen Verstrickungen geschuldet ist. Auf engem Raum, der weit wirkt, weil viele Lücken klaffen, gibt sich die katholische Welt Berlins ein Stelldichein. Verrostete Grabeinfassungen, einstmals prachtvoll, erinnern an liegengebliebene Kutschen aus Alt-Österreich. Niederschlesische Namen wie Barthel oder Hahnel und oberschlesische Namen wie Grzeszkiewicz, Wosnik oder Kolodziejski zeugen von vielfältigen schlesischen Mitgliedern der St. Hedwigsgemeinde. Die leere Wiese des protestantischen Domfriedhofs öffnet den Blick auf eine Weltlandschaft zwischen Brandmauern und Prachtgruften. Die Gräber, die in die Brandmauer eingelassen sind, wirken eingesunken wie antike Grabmale. Die Atmosphäre wird dichter unter den Fliederbüschen. Die S-Bahn rattert vorbei, sie quietscht und zischelt, bevor sie in den Tunnel zum Nordbahnhof eintaucht. Trauerbuchen bewachen eingesunkene Gräber, um die sich niemand mehr kümmert. Eisenkreuze rosten vor sich hin. Marmorgrabsteine stehen schief wie wackelnde Zähne. Kreuze mit Holzdächlein erinnern an den lieblicheren Süden. In der glühenden Hitze des Sommers sind die weiten Wiesen verdorrt und die langen Gräser hängen welk und verbrannt um die Kanten der Gräber. Im Herbst sind sie mit Laub überhäuft. Leer ist der Friedhof und einsam. Wer keine Heimat hat – hier kann er Ruhe finden.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 22. November 2010

Hydranten im Tiergarten

Man muss ins schlesische Kreisau fahren, um etwas über Berlin zu erfahren. Eingeladen war ich, um in Kreisau vor fünfzig deutschen, polnischen und ukrainischen Studenten etwas über deutsche und Lemberger Spuren in Breslau und über polnische Spuren in Lemberg, dem heute ukrainischen Lviv, zu erzählen. Neben einigen polnischen Historikern kam ich mit den Veranstaltern ins Gespräch, Rotariern, von denen einer polonophil war (»einmal Polen, immer Polen«), ein anderer gegen das Zentrum gegen Vertreibungen wetterte und ein dritter sich für den Erhalt von SS-Gräbern in Polen aussprach (»diese verführten jungen Männer«). Da fiel mir ein Rotarier auf, ein Theologe, der sehr bewandert war und interessiert an der Thematik der schlesischen Spuren in Berlin. Über die Firmenstempel von Beuchelt aus Grünberg/Schlesien am Bahnhof Friedrichstraße verständigten wir uns auf der Stelle. Er nahm an, dass ich dann auch die Hydranten im Tiergarten kennen müsste. Aber da konnte ich nur den Kopf schütteln. Wo denn im Tiergarten? Na, überall, im Umkreis des Großen Stern.

Hydrantendeckel im Tiergarten
Ich ließ die flachen Gebäude von Kreisau, den bunten Kinderspielplatz, den Innenhof von der Größe zweier Fußballfelder hinter mir zurück. In Berlin machte ich mich auf die Suche. Aber so einfach wie an der Friedrichstraße gestaltete sie sich nicht. Ich lief auf großen und kleinen Wegen unbestimmt durch den Tiergarten, schlängelnd vor und zurück und schaute mir nach den Hydranten die Augen aus dem Kopf. Ich stellte sie mir so vor wie jene, die auf den alten Berliner S-Bahnsteigen in die Höhe ragen, kleinen Männchen mit zwei kurzen Armen gleich. Ich fand sie nicht und ärgerte mich schon über meine Naivität, auf die vage Angabe eines mir Fremden hin im Berliner Tiergarten meine Zeit zu vertrödeln. Ich lief am Neuen See entlang und am Kanal, hin- und herspähend, bis mir der Gedanken kam, dass es im Tiergarten ja gar keine Hydranten zu gegeben brauchte, da die Feuerwehr im Brandfalle das Wasser je direkt aus den Gewässern pumpen könnte. Also schlängelte ich mich langsam durch schmale Wege zurück, Wege, benutzt von einsamen Männern und gesäumt von Papiertaschentüchern. Und da sah ich ihn: es war kein Hydrant, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, sondern ein ovaler eiserner Hydrantendeckel, der im braunen Laub des Bodens kaum auffiel. HYDRANT war darauf geprägt, und darunter RUDOLF WARMBT WALDENBURG SCHL. zu lesen. Von dieser längst wieder untergegangenen Eisenfirma Warmbt aus der kleinen Industrieregion des Waldenburger Berglands hatte ich noch nie etwas gehört. Aber das spielte keine Rolle. Das SCHL. löste eine große Freude in mir aus. Und es stand nicht nur einmal da. Im näheren Umkreis schon fand ich, jetzt mit geschärftem Blick, mehrere Hydrantendeckel aus SCHL. Ich hätte nicht genau sagen können warum, aber dieses WALDENBURG SCHL. erfüllte mich mit einer so großen Befriedigung, dass ich dem Theologen aus Kreisau einen Dankesgruß in alle vier Himmelrichtungen blies, am stärksten aber in Richtung Waldenburg.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 18. November 2010

Schlesische Antike in Berlin

Wie ein Detektiv stürzte ich mich in die städtische Wirklichkeit mit ihren Steinen, Eisenträgern und Gebäuden hinein. Ebenso durchstöberte ich wichtige kulturelle Zeugnisse der Stadt. Ich fühlte mich wie ein Archäologe, der die abgesunkene schlesische Antike in Berlin zu rekonstruieren versucht. Das Thema war ergiebig, ist ergiebig und wird immer ergiebiger. Aber ich möchte das Buch nicht vorwegnehmen, sondern statt dessen an dieser Stelle auf ein paar aussagekräftige Splitter hinweisen, die aus Platzgründen im Buch nicht aufgenommen werden konnten. Zum Buch nur so viel: es sind große Namen, berühmte Zeugnisse aus Kunst, Literatur, Geistes- und Industriegeschichte, die mit dem schlesischen Einfluss auf Berlin verknüpft sind. Da sind Carl Gotthard Langhans, der Erbauer des Brandenburger Tors, und Adolph Menzel, Gerhart Hauptmann und Willibald Alexis, Ferdinand Lassalle und August Borsig, Ludwig Meidner und Arnold Zweig, um nur einige Schlesier zu nennen, die Berlin maßgeblich beeinflusst haben. Sie haben das Stadtbild geprägt (und prägen es bis heute), sie haben maßgeblichen Anteil an der mythisierenden Verehrung Friedrichs des Großen, sie haben den Witz für die altberliner Posse aus Schlesien mitgebracht, wie auch den sozialreformerischen Impetus und den Hang zur seelentiefen Mystik. All das wird im Buch »Jeder zweite Berliner« ausführlich hergeleitet und beschrieben.

Hier nun bleiben einzelne Fundstücke zu beleuchten, die immer im Zusammenhang der schlesischen Einflüsse auf die Stadt Berlin stehen.

Firmenstempel »Beuchelt«
an der Friedrichstraße
Bahnhof Friedrichstraße, oberes S-Bahngleis in Richtung Westen. Sehr oft habe ich dort gestanden und auf die S-Bahn Richtung Charlottenburg, Richtung Wannsee gewartet, vor der Wende, als die S-Bahn noch im 20-Minuten-Takt fuhr, hier endete und der Blick auf die östlichen Nachbargleise eines fremden Systems mit grauen Metallplatten versperrt war, und nach der Wende. Lange habe ich dort gestanden und gewartet, noch länger bei Bauarbeiten und Pendelverkehr, weniger lang im neuen Zwei-Oder-Drei-Minuten-Takt nach der Wende. Immer ging mein Blick hierhin und dorthin, gelangweilt oder in Eile, glitt über die Gesichter der Reisenden, auf die Baustellen unten, bohrte sich in östliche Richtung, um die Ankuft des Zuges versuchsweise zu beschleunigen. Hunderte Male habe ich dort gestanden und vor mich hin gestarrt und sie nie gesehen - die eisernen Firmenschilder an den Metallstreben der S-Bahn-Konstruktion, obwohl sie sich sogar auf Augenhöhe befinden. Der bekannte Satz, dass man nur das sieht, was man weiß, ist mit niemals deutlicher vor Augen geführt geworden als hier. Andreas Kossert hatte in seinem Buch "Kalte Heimat" auf die Firmenstempel der schlesischen Firma Beuchelt am Bahnhof Friedrichstraße hingewiesen, und so ging ich sie suchen. Ich machte mich auf eine langwierige Detektivarbeit gefasst, vermutete diese Schilder an den verborgensten und geheimsten Stellen des labyrinthischen Bahnhofs. Wie überrascht war ich, als genau an den Stellen, an denen ich so oft gestanden und gewartet hatte, sich mir der Blick plötzlich entschleierte. Da stand es: »Beuchelt u. Co. 1923 Grünberg - Schlesien«. Und es stand dort mehrfach, im Wechsel mit den Firmenstempeln eines Eisenunternehmens aus Stettin. Es war, als hätte sich ein unsichtbares Lid von meinen Augen gehoben und ich erst richtig zu sehen begonnen.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 15. November 2010

Breslauer Wollmarkt auf dem Alexanderplatz

Es war ein Schlüsselerlebnis, das mich zu dem Buch »Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren in Berlin« führte. Es begann mit einem harmlosen Touristenprogramm für Gäste aus Südwestdeutschland, die noch nie in Berlin gewesen waren. Reichstagskuppel, Brandenburger Tor, Museumsinsel, Fernsehturm, Alexanderplatz. Dort sprudelte der Neptunsbrunnen und die Kinder erfreuten sich am Meeresgetier, das den Netzen entwischt war. Vier Flussgöttinnen sorgten dafür, dass der Brunnen nicht versiegte. Ich hatte sie mir noch nie so ausführlich angeschaut und wusste sie nicht zu benennen. Der Reclamführer aus den siebziger Jahren gab Auskunft über die Ströme Preußens Ende des 19. Jahrhunderts: die Figur mit den Trauben solle den Rhein, die Figur mit den Ähren die Elbe, die Figur mit dem Holz (Flößer!) die Weichsel (!) und die Figur mit dem Ziegenfell die Oder darstellen, denn das Fell verweise auf den Breslauer Wollmarkt.

Da durchfuhr es mich. Eine Allegorie des Breslauer Wollmarkts sitzt mitten auf dem Alexanderplatz! Da schreibe ich Bücher über Breslau und zitiere darin Gedichte aus dem 16., 17., 18. Jahrhundert über den Breslauer Wollmarkt und weiß nicht, das seine Verkörperung Wasser in den Berliner Neptunsbrunnen gießt!

Das Gedicht über den Breslauer Wollmarkt von Johann Andreas Mauersperger aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam mir in den Sinn:

»Die große und kleine Waag ist auf dem Ringe,
Bey welcher der, der was zu wägen, sich findt ein.
Die ein hochedler Rat sich bestellt zur Waage
Sind mühsam, dieser steht und wiegt, was man gebracht,
Und jener merket auf, wieviel die Last betrage,
Ein anderer sieht, daß er die Zettel fertig macht.
Wenn man den Schafen hat ihr weiches Kleid genommen,
So findt der Adel sich mit Haufen in der Stadt.
Man sieht das Schäfervolk von allen Seiten kommen,
Daß lange Wolle Säck auf großen Wagen hatt.
Kann man die Wolle nicht alsbald zur Waage tragen,
So kürzt man sich die Zeit mit Bier und Branntewein. (..)«

Oder-Allegorie am Neptunbrunnen
am Alexanderplatz
Bei dem durch und durch schlichten Gedanken »hier sitzt ja ein Stück Breslau, ein Stück Schlesien mitten in Berlin!« wurde mir überraschend heimatlich zumute. Ich fing an zu suchen, meinend, dass das alles längst beschrieben wäre und nur ich nichts davon wüsste. Es gab und gibt ja alles über Berlin, Berlin zu allen Zeiten, das jüdische, hugenottische, russische, sogar das niederländische Berlin, Berlin bei Tag und bei Nacht, von oben und von unten, von hinten und von vorne. Bloß das schlesische Berlin war nicht dabei. Und so ging ich erst richtig auf die Suche.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 11. November 2010

Selbstauskunft

Warum geht jemand, der am Rande des Ruhrgebiets geboren und aufgewachsen ist, der nicht von westfälischen, sondern von schlesischen Eltern abstammt, mit neunzehn Jahren nach Berlin? Und nicht in das Berlin von heute, sondern in das marode, geteilte Westberlin der beginnenden achtziger Jahre? Was konnte daran anziehend sein? Es waren wohl die zerschossenen Häuser und Kriegsruinen, die noch sichtbar waren, die Ruine des Anhalter Bahnhofs mit dem riesigen überwucherten Gleisareal, die Namen schlesischer Orte auf angerosteten Straßenschildern, das schlesische Tor, die ganze mangelnde Geschichtsvergessenheit, die einen starken Zauber ausübten, viel stärker als die Jetztzeit der Kreuzberger Nächte um 1980 es je vermocht hätte. In beiden Teilen der Stadt, in Westberlin und Ostberlin, war die unfreiwillige Konservierung der jüngeren katastrophischen Geschichte allgegenwärtig. Die Stadt war wohltuend unbequem, sperrig, anachronistisch, kein Vergleich zu den glatten Fassaden hysterischer Geschichtsauslöschung so mancher westdeutschen Stadt. In Berlin schien etwas zu warten, etwas Unerledigtes, die Geschichte zum Greifen nah, der abgetrennte Osten wenigstens noch schemenhaft präsent.

So kam es, dass die Stadt mich wie ein Magnetberg anzog, mich fesselte, ohne dass ich genau hätte sagen können warum, mich in ihren Bann zog. Ich tat merkwürdige Dinge zu Beginn der achtziger Jahre. In der frühen Dämmerung eines Winternachmittags begab ich mich zur Ruine des Anhalter Bahnhofs, umkreiste sie und tauchte dann in das dahinterliegende Gleisareal ein, das verödet und überwuchert da lag. Unter der winterlich abgestorbenen Vegetation fand ich alte verrostete Gleise, Schienenstränge mit Holzschwellen. Ich wusste nichts. Ich wusste nur, dass mein Vater während des Zweiten Weltkriegs hier mehrfach angekommen und abgefahren sein musste. Vielleicht von und nach Schlesien? Nichts wusste ich. Aber es reichte aus, um in der Dunkelheit eine geschichtliche Aura über die Brache zu wölben. Ich bückte mich und brach ein Stückchen morschen Schwellenholzes ab. In Erwartung verschwörerischen Einverständnisses überreichte ich es meinem Vater zu Weihnachten. Er aber schaute mich verständnislos an und ließ es liegen.

Das ist lange her. Die Stadt hat sich gewandelt. Das mit jüngerer Geschichte gesättigte Vakuum ist nach der Wende belüftet worden. Die Stadt ist damit beschäftigt, ihre Ecken und Kanten abzuschmirgeln, die historischen Verwerfungen zu zähmen, zur Beruhigung allerorten harmlose Bären und lustige Schilder aufzustellen, auf denen im Triumph der Paradoxie steht, wie man zu sein hat, um Berlin zu sein, Wandel und man selber, anders und sexy, arm oder exzentrisch oder so wie alle. Jeder kann sich, je nach Neigung, neue Schilder ausdenken, womöglich »Sei Schloss. Sei Brache. Sei Berlin«. Kaum aber vorstellbar wäre folgender Slogan: »Sei Schlesien. Sei Pommern. Sei Berlin.«

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 8. November 2010

Nesthäkchen zieht von Schlesien nach Bayern

Ury, Else: Nesthäkchen und ihre Puppen,
Schutzumschlag von Franz Kuderna
der Ausgabe von 1913
Foto: © de.wikipedia.org
Aber nicht nur in den heutigen Zeiten politischer Korrektheit und vorauseilenden Gehorsams werden Hinweise auf den deutschen Osten aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland eliminiert, sondern dies geschah bereits in den fünfziger Jahren. Ein sprechendes Beispiel ist dabei die populäre Nesthäkchen-Reihe von Else Ury. Hier zeigt sich der allgemeine Drang nach dem Zweiten Weltkrieg, die unliebsamen Ostbezüge, die der neuen Westorientierung nur hinderlich gewesen wären, hinter sich lassen zu können. Spielen die ersten, in den zehner und zwanziger Jahren verfassten Bände in Berlin, aber auch bei bäuerlichen Verwandten auf Gut Arnsdorf in Schlesien, so sind diese Verwandten in der Neuauflage aus den fünfziger Jahren mit einem Mal angestammte Niederbayern.

Nesthäkchens Freundin, die in der Originalausgabe aus Breslau stammt, stammt nach 1945 aus München (Bd. 3, Nesthäkchen im Kinderheim). Besonders aufschlussreich ist Band 5, Nesthäkchens Backfischzeit: im Original verbringt Nesthäkchen ihre Sommerferien wieder im schlesischen Arnsdorf. Wegen der polnischen Aufstände in Oberschlesien 1919/20 muss sie übereilt in Richtung Berlin abreisen, bleibt aber aufgrund eines Eisenbahnerstreiks im schlesischen Sagan liegen, wo sie sich alleine durchschlagen muss. Diese historische Dimension wird nach 1945 getilgt: dort ist Nesthäkchen bei ihren niederbayrischen Verwandten zu Gast (bei denen seltsamerweise - es spielt ja immer noch 1919/20 - ein schlesisch sprechender Knecht auftaucht, der vermutlich bei der Neubearbeitung übersehen wurde), reist nach Berlin ab und bleibt wegen eines allgemeinen Generalstreiks in Nürnberg liegen. Auch in Band 9, Nesthäkchen und ihre Enkel, stammt im Original ein verwaistes Mädchen in Südamerika von schlesischen Auswanderern ab, die in den fünfziger Jahren zu Westfalen mutiert sind. Lediglich in Band 2, Nesthäkchens erstes Schuljahr, wird nach 1945 das Ferienziel, das schlesische Riesengebirge, nicht geändert - Hinweis vielleicht auf die übermächtige Bekanntheit dieses Gebirges mit dem Hauptgipfel der Schneekoppe, das, anders als Sagan beispielsweise, nicht mit Amnesie belegt werden konnte und sollte.
Firmenlogo der Schneekoppe
von 1965 bis 1978
Foto: © www.schneekoppe.de
An dieser Stelle ist auch der Firmenname von Diabetikerprodukten, Schneekoppe von Interesse: tatsächlich auf der Sammlung von Heilpflanzen im Riesengebirge der zwanziger Jahre beruhend, wählte die nach Westen vertriebene Heilkräuterkundigenfamilie bewusst den Namen Schneekoppe als Firmenemblem, um auf den Ursprung ihrer Tätigkeit und gleichzeitig auf ihre verlorene Heimat hinzuweisen.

Aber das sind Ausnahmen. In den meisten Fällen wurden die erinnernden Hinweise an die Ostgebiete verunmöglicht. Für die zweite Generation der Vertriebenen führte das zu einem starken Gefühl der Unwirklichkeit all ihrer mythologischen Stoffe, die nun keinerlei Realitätsbezug mehr hatten. Bei den heute Vierzig- bis Sechzigjährigen (und bei den Jüngeren ohnehin), die nicht familiär betroffen sind und waren, führte die Auslöschung von Erinnerung zu einer extremen Unkenntnis. Kein Verlust schmerzt sie, weil sie noch nicht einmal von dem Verlorenen etwas wissen. Für diejenigen Polen, die sich mit der deutschen und preußischen Geschichte in den heute polnischen Woiwodschaften Śląsk (Schlesien), Warmia i Mazurskii (Ermland und Masuren), Pomorski (Pommern) beschäftigen, ist diese Ignoranz vollkommen unverständlich, ja, sie sind jedes Mal zutiefst schockiert und verunsichert, wenn ihnen etliche Deutsche, durchaus auch Intellektuelle, mit Unkenntnis und Desinteresse begegnen. Wie klagte neulich ein polnischer Kunsthistoriker aus Breslau verzweifelt? Die Deutschen, auch Kollegen, wüssten nichts, so, als begänne östlich der Oder eine gelbe Wüste, als befände sich dort nichts mehr oder höchstens, nach Taiga und Tundra, das Eismeer in ewigem Winter.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 4. November 2010

Amnesien

Kossert, Andreas: Kalte Heimat,
WJ Siedler Verlag 2008
Foto: © buchhandel.de
Nach 1945 wurde Deutschland neu aufgeteilt. Zu dieser Aufteilung gehörte auch ein neuer Blick auf die abgetrennten deutschen Ostgebiete. In der SBZ und in der DDR sollte die Erinnerung an Schlesien, Pommern und Ostpreußen möglichst schnell aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden. In den Westsektoren ging man zunächst nicht ganz so rabiat vor. Vertriebenenorganisationen und -treffen wurden zugelassen, Denk- und Mahnmale in vielen Städten erinnerten an die Ostgebiete, Schulen konnten in Schlesienschule, Versammlungssäle in Pommernsaal umbenannt werden. Es gab den »Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten« als eigene Partei. Ab den siebziger Jahren jedoch ließ diese sowieso schon brüchig gewordene Erinnerungskultur stark nach. Mahnmale wurden wieder abgebaut, und von offiziellen Seiten, von Parteien und Verbänden wurden und werden letzte Erinnerungsreste an den ehemaligen deutschen Osten der Amnesie anheimgegeben. Ein jüngeres Beispiel stellt die Umbennenung der Schlesien-Schule in Berlin-Charlottenburg im Jahr 2004 dar, wie es Andreas Kossert in seinem Buch Kalte Heimat beschreibt: argumentierten CDU und FDP, dass »Schlesien für einen Teil deutscher und europäischer Geschichte stehe, für den sich niemand zu schämen habe«, so konterte die SPD, »der Name Schlesien könne zu Missverständnissen nicht nur bei unseren polnischen Nachbarn führen [...], die Schule müsse sich von allen restaurativen Interessen distanzieren.« Schlug die CDU der Schulleitung vor, Kontakt zu einer polnischen Schule aufzunehmen, so begründete der Schulleiter schließlich die Entscheidung für die Umbenennung damit, dass »im Zuge der deutschen Wiedervereinigung jegliche Ansprüche auf die ehemaligen Ostgebiete ad acta gelegt worden seien« und: »Keiner unserer Schüler hat einen Bezug zu Schlesien« - »eine Aussage«, so Kossert, »die einer gründlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten würde.« (Kossert, Kalte Heimat, München 2008, S. 191 f.)

Ebenso sollte auf Antrag von Grünen und SPD der Breslauer Platz in Köln zu Beginn der neunziger Jahre in Willy-Brandt-Platz umbenannt werden. Jedoch blieb der Name Breslauer Platz aufgrund von Protesten aus der Stadtbevölkerung, einer Mischung aus Ur-Kölnern und Schlesiern, erhalten.

Es ist wohltuend zu beobachten, wie entspannt polnische Studenten mit den deutschen Namen aus Schlesien umgehen können. So freute sich eine Gruppe polnischer Germanistikstudenten, die vom Haus Schlesien in Königswinter zu einer Tagung eingeladen waren, über die Bezeichnung der Zimmer nach deutschen Städtenamen aus Schlesien. Sie waren sehr zufrieden mit den Zimmernamen Glogau und Bunzlau in Haus Breslau, mit den Zimmern Ratibor und Bolkenhain in Haus Oder, mit Neurode und Bad Reinerz in Haus Grafschaft Glatz. Da sie aber aus Wrocław kamen, hätten sie natürlich alle am liebsten das Zimmer Breslau im Haus Riesengebirge bewohnt.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 1. November 2010

Heimatverbot

Ein prominenter wie auch besonders radikaler Vertreter der Heimatproblematik ist der Schriftsteller Franz Fühmann. 1922 in Rochlitz (Rokytnice) im böhmischen Riesengebirge geboren, ging er in Wien und Reichenberg (Liberec) zur Schule, machte in Hohenelbe (Vrchlabí) Abitur und lebte und arbeitete nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft seit 1949 in der DDR, in Märkisch-Buchholz bei Berlin. Zwei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1984 reflektierte er über seine Herkunft in einem öffentlichen Gespräch mit Winfried F. Schoeller:

Fühmann: »Zu den Gründen, warum mich diese Landschaft (das Bergwerk) so fasziniert, kommt hinzu: Ich habe ja meine angestammte, urpoetische Heimat Böhmen verleugnet wie Petrus den Herrn, wenn auch aus ehrsamen Motiven. Ich wollte nicht ins gleiche Boot kommen mit diesen Trachtenpflegern und Heimatvereinen. Ich habe mir gesagt: das ist aus und vorbei, die Umsiedlung ist geschehen, ich habe die Heimat gewaltsam getilgt. In den ›zweiundzwanzig Tagen‹ habe ich in einem kleinen Abschnitt darüber geschrieben. Johannes Bobrowski machte das mit seiner litauischen Heimat nicht. Er hat seine Landschaft hinübergerettet und bewahrt.«

Schoeller: »Sie haben sich in die historische Einsicht, daß dieses Problem der Heimatvertriebenen erledigt ist, gefügt und deshalb nicht über Böhmen geschrieben?«

Fühmann: »Ich habe sogar noch etwas mehr gemacht: ich habe sie getötet. [...] Das ist ein Problem. Man kann sich die Heimat doch so verleiden, daß man sie für sich tötet. [...] Ich habe mir die Heimat richtig verboten: Du treibst dich jetzt nicht auf den Bergen herum! Ich habe versucht, der märkischen Landschaft etwas abzugewinnen, was nicht geht. Ich bin kein Märker, nicht dort aufgewachsen.

Dieses Heimatverbot war sicher eine Komponente mit, daß mir die Lyrik abgestorben ist - nicht die wesentliche, aber doch eine. Nun entdecke ich das Gebirge gewissenmaßen nach unten geklappt und krieche dort herum.«

(Franz Fühmann: Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Ein Lesebuch, Hamburg 1983, S. 378 f.)



Fühmann, Franz:
Zweiundzwanzig Tage oder
die Hälfte des Lebens
,
Hinstorff Verlag 1999
Foto: © buchhandel.de
Gerade gegen Ende seines Lebens übte der Topos des Bergwerks eine starke Anziehungskraft auf Fühmann aus. Das Bergwerk mit seinen unterirdischen Verästelungen wurde für ihn zu einem Sinnbild für die Auffindung, das Aufspüren verschiedenster Bezüge und Bindungen, die in seinem Leben bedeutungsvoll waren. Der Auszug aus den Zweiundzwanzig Tagen, auf die Fühmann in dem obigen Zitat anspielt, räumt sein spätes Bedauern über die Radikalität ein, sich die Heimat verboten zu haben, eine Härte, die sich zerstörerisch auf sein lyrisches Schaffen ausgewirkt hat:

»Ich muß gestehen, daß ich anfangs seiner (Bobrowskis) Lyrik schroff ablehnend gegenüber stand, ja in ihr etwas Unerlaubes gesehen habe: das Wachhalten, vielleicht sogar Wiedererwecken von Gefühlen, die aussterben mußten, Sentiments der Erinnerung an die Nebelmorgen hinter der Weichsel und den süßen Ruf des Vogels Pirol... Ich hatte wohl eine ehrenhafte, aber sehr enge Auffassung vom Bewältigen der Vergangenheit, und ich bin dem eigenen Lied auf die Kehle getreten. Doch aus der Geschichte läßt sich nichts tilgen, kein einziger Aspekt und kein einziges Gefühl [...]. Nicht ein ›Es war nie gewesen‹ und auch nicht ›Als ob es nie gewesen wäre‹, sondern nur ›Es war so und ist vorbei‹ ist der sichere Grund, ein Neues zu bauen.«

(Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens, Rostock 1973, S. 139)

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.