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Dienstag, 19. Oktober 2010

Amputierte Erinnerung?

Wie verhält es sich nun mit der zweiten Generation der deutschen Vertriebenen? Auch hier sind die Möglichkeiten, sich gegenüber der alten und der neuen Heimat der Eltern oder eines Elternteils zu verhalten, sehr unterschiedlich.

Beispiel eins: Ein Jurist mit einem Elternteil aus Schlesien und ein Ingenieur, dessen Eltern beide aus Schlesien stammten, beide um 1960 im Rheinland geboren, reagieren durch Überassimilation auf ihre neuen Wohnorte, der eine weiterhin im Rheinland, der andere im Badischen. Ihr Verhalten zeichnet sich durch Übersprungshandlungen aus. So übernehmen sie den lokalen Dialekt, den sie von ihren Eltern nie gehört haben, und die Lebensgewohnheiten der Region. Sie treten in Vereine ein und mutieren zum Superkölner bzw. zum Superbaden. Sie haben keinerlei Bezug zur Herkunft der Eltern oder Elternteile. Schon die östliche Lage Berlins wirkt auf sie beunruhigend, und alles, was östlich von Berlin liegt, geradezu bedrohlich. Sie bemühen sich stark um eine für sie neue, westlich ausgerichtete landmannschaftliche Prägung, da ja für die meisten Deutschen der Bezug zur Region und das Gefühl, dazuzugehören sehr wichtig ist. Sie wollen auch von "do" sein, sich heimatlich fühlen, so, als wären sie schon ganz lange da.

Heimat - ist dieser Begriff überhaupt zulässig? Ist er nicht zu antiquiert, zu verstaubt, zu ungut, zu belastet? Sollte man gerade heutzutage - Globalisierung! - nicht nüchterner über diese Dinge, die Herkunft, die Zugehörigkeiten sprechen? Es scheint aber doch so, dass die meisten Menschen traditioneller, beharrender, bewahrender veranlagt sind. Uwe Johnson spricht in seinen Jahrestagen vom "Weltdorf New York". Und schon im Faust weiß Mephisto: "Es ist doch lange hergebracht, daß in der großen Welt man kleine Welten macht." Anscheinend sehnen sich die Menschen neben ihrer ganzen weltweiten Offenheit auch immer wieder nach überschaubareren Einheiten und Gebilden, nach Eintauchen in die warme Badewanne des Bekannten. Interessant ist es zu beobachten, dass in den letzten Jahren immer wieder Romane auf den Buchmarkt kommen, deren Untertitel "Heimatroman" lauten (Gert Jonke, Jens Sparschuh, Andreas Maier u. a.), die selbst in ihrer ironischen Gebrochenheit und Reflektiertheit auf ein Heimatgefühl verweisen. Die kühlsten, nüchternsten und analytischsten Menschen werden bei der Frage nach ihrer Heimat weich. Die wenigsten weisen eine solche Frage schroff zurück.

Beispiel zwei: Ein Liedermacher mit einem Elterteil aus Schlesien, um 1950 in Berlin geboren und aufgewachsen. Er zählt sich dem linksliberalen Milieu in Folge der Studentenbewegung zu. Die Vertriebenenthematik beäugt er skeptisch bis misstrauisch. Seit einiger Zeit begeistert er sich für Osteuropa. Er reist nach Polen und in die Ukraine. Als er in einem Huzulenhaus in den Bergen sitzt und dort die Trachten der westukrainischen Huzulen, der Bewohner der Karpaten, betrachtet, erinnert er sich plötzlich beim Bloggen unwillkürlich an die Trachten seiner schlesischen Mutter und an ihre Trauer, dass in Bayern niemand mehr ihre schlesischen Trachten sehen, geschweige denn tragen wollte, und dass die Nachfahren die schlesischen Bräuche nicht pflegten. Erst in der unverfänglich scheinenden Fremde ist es ihm möglich, etwas Unterdrücktes, etwas Abgewehrtes zuzulassen.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Montag, 11. Oktober 2010

Rückwärtsgewandt oder mitgemacht

Ein »Wohl-oder-übel-Gefühl«, das »Zusammenfügen und halbwegs friedliche Zusammenleben von Heterogenem« – mehr, so Robert Traba am Ende des letzten Eintrags nüchtern, könne man nach den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts vom Begriff »Heimat« nicht verlangen.

Wie ist es umgekehrt mit den deutschen Vertriebenen? Hier verhält es sich nun nicht zwingend spiegelverkehrt zu den polnischen Erfahrungen, wie sonst immer für die Westverschiebung mit der doppelten Vertreibungsbewegung - die Ostdeutschen kamen nach Westen, die Ostpolen nach Schlesien, Pommern und Ostpreußen - angenommen wird. Bei der Frage nach der heimatlichen Verwurzelung der deutschen und polnischen Vertriebenen, auch der zweiten Generation, hapert es mit den strukturellen Ähnlichkeiten. Denn die deutschen Vertriebenen kamen ja nicht in leere und fremde Gebiete, sondern in kulturell nicht ganz so fremde und vor allem besiedelte Gebiete, in denen die Angestammten ihre Rechte auf Angestammtsein deutlich bis sehr deutlich bekundeten. Wie groß die Abwehr, die Ablehnung der Vertriebenen durch die ansässige Bevölkerung war, beschreibt Andreas Kossert eindrucksvoll in seinem Buch Kalte Heimat.

Kossert, Andreas: Kalte Heimat,
WJ Siedler Verlag 2008
Foto: © buchhandel.de
Schon die erste Generation der Vertriebenen reagierte sehr unterschiedlich auf den erzwungenen Heimatverlust. Vermutlich gab es so viele, individuell unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten auf die Vertreibung, wie es Vertriebene gab. Und doch lassen sich auch immer wieder strukturelle Ähnlichkeiten in bestimmten Gruppen erkennen. So lehnten häufig ganz alte Leute und Bauern den neuen, zufälligen Ort ab, an den man sich mit einem Mal ungewollt wiederfand, ja, sie verweigerten sich ihm gegenüber geradezu. Gerade Bauern oder auch Gutsbesitzer, die Land besessen hatten, verharrten verständlicherweise gern in der Vorstellung der verlorenen Heimat, wo sie etwas hatten und waren, während im Westen das Land seit altersher unter den Einheimischen aufgeteilt war. Das stellte sich kurzzeitig in der DDR durch Bodenreform und Neusiedlerbewegung anders da, dort bekamen auch die Vertriebenen Land zugesprochen, verloren es jedoch durch die Kollektivierung der Landwirtschaft wieder. Diese nicht anpassungswillige Gruppe beharrte auf ihrer Mundart, ihren traditionellen Speisen, ihrer religiösen Ausprägung und auf den alten Geschichten aus der verlorenen Heimat, die so oft erzählt wurden, dass sie sich langsam zu mythischen Stoffen zu verdichten begannen. Sie wussten, wo ihre Heimat war. Diese aber war verloren. Das hatte Zorn, Trauer und Melancholie zur Folge.

Eine solche Gruppe der Vertriebenen gab es übrigens auch in Polen, beschrieben vom polnischen Autor Adam Zagajewski in seinem Essay Zwei Städte. Darin entwirft Zagajewski ein Panoptikum älterer, aus Lemberg vertriebener Polen, die sich nach 1945 ungewollt im ehemals deutschen Gleiwitz wiederfanden - miniaturenhafte Kabinettstückchen der Integrationsverweigerung.

Eine entgegengesetzte Möglichkeit der deutschen Vertriebenen, auf die neuen Verhältnisse zu reagieren, bestand in Überassimilation. Im extremsten Fall wurde die Herkunft verleugnet, da mit ihr in beiden Teilen Deutschlands kein Staat zu machen war, im etwas weniger extremen Fall wurde sie zumindestens nach außen verschwiegen (und die mythischen Stoffe nur nach innen, innerhalb der Familie weitergegeben). Auch das ist verständlich. Denn die Vertriebenen wollten nicht auffallen, und wenn, dann nur durch Tüchtigkeit und moralische Integrität. Sie waren um ein besonders gutes Deutsch bemüht, um den Vorwurf, die Leute aus dem Osten seien ja sowieso alle "Polacken", gar nicht erst aufkommen zu lassen. Sie bemühten sich, ihre Kinder vorbildlich zu erziehen, um nicht anzuecken. Sie suchten nach den Werten, die in den jeweiligen Gesellschaftsystemen etwas zählten. Das konnte im Westen ein durch unglaublichen Fleiß errungener guter Beruf sein, in dem man durch besondere Tüchtigkeit auffiel, und der Bau eines Hauses durch äußerste Sparsamkeit und Versagungen. In der DDR konnte es die SED-Mitgliedschaft sein und damit verbunden ideologische Überkorrektheit. Ob Bundesrepublik oder DDR: man war genug gedemütigt worden, hatte den Besitz-, den Status- und, was am schwersten wog, den Heimatverlust erlitten, nun wollte man in der neuen Heimat endlich mitmachen, einen Platz besetzen, nach vorne schauen - schon für seine Kinder.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.