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Donnerstag, 14. Oktober 2010

Abwehrreflexe

Vielleicht rührte die Abwehr der angestammten Bevölkerung gegenüber den Vertriebenen von einer Art Geschichtshygiene nach dem Zweiten Weltkrieg her. Diese zeigte sich auch in der Abrisstätigkeit, die nach dem Krieg in den deutschen Städten herrschte und die bis heute wirksam ist. Angeblich wurde Platz gebraucht für Fußgängerzonen, Autobahnen, Parkhäuser oder fortschrittliche sozialistische Architekturen und Magistralen. Aus dem Abstand betrachtet will es jedoch so scheinen, dass geschichtlicher Ballast abgeworfen werden sollte, um frei und ungebunden in eine moderne Zukunft entfliehen zu können. Sehr schnell waren die Spuren des Krieges in Westdeutschland getilgt und von Neubauten ungeschehen gemacht worden. Jüngste, unangenehme Geschichte vermutete man höchstens - unbewusst kollektiv und amorph - Richtung Osten. Auch daher rührte die große Reserve, das Misstrauen den Vertriebenen gegenüber, diesen Ungebetenen, Sandsackschweren, denn ihnen haftete sozusagen die düstere jüngste deutsche Geschichte noch an, sie waren lebendige Zeugnisse einer großen Schuld, die alle Deutschen hätte angehen müssen, wären sie nicht mit Wiederaufbau und Verdrängung befasst gewesen. Vielfach gab es einen doppelten Abwehrmechanismus. Man verschloss in den fünfziger und sechziger Jahren die Augen vor der deutschen Schuld, an die man sich durch die Fremden aus dem Osten unbewusst erinnert fühlte, und brachte oft wenig Mitleid auf für das Schicksal dieser Menschen, die alles verloren hatten, weil die eigenen Verluste ebenfalls schmerzten und auch weil viele in den Vertriebenen zu Recht Bestrafte sahen. Denn wer so bestraft worden war, musste wohl auch große Schuld auf sich geladen haben. Was ging einen das in München, in Stuttgart, in Hannover, in Köln, in Frankfurt, in Hamburg, in Rostock, in Dresden, in Leipzig und in Berlin an. Anders ausgedrückt: Zu der Ablehnung, die man ohnehin den Fremden aus dem Osten entgegenbrachte, die nun ebenfalls Platz und Nahrung beanspruchten, gesellte sich ein merkwürdiges Konglomerat aus antiöstlichen Ressentiments und verdrängten Schuldgefühlen. Es war bequem, in ihrem Schicksal die gerechte Strafe für besonders große Schuld zu sehen, nämlich für die Kriegsverbrechen und die Vernichtung der Juden, die ja vor allem da hinten im Osten stattgefunden hatte. Den Gestraften konnten man im Nachhinein das eigene schlechte Gewissen guten Gewissens aufladen. Tatsächlich stimmt diese Schuldkonstruktion nicht mit der historischen Realität überein, denn die neuen Grenzen, wie sie von den Alliierten in Teheran, Jalta und Potsdam erwogen worden waren und beschlossen wurden, waren Resultate machtpolitischer Erwägungen und nicht etwa moralischer Betroffenheit. Nicht Auschwitz stand zur Debatte, sondern Deutschland als kriegsverbrecherischer Kriegsverlierer.

Um es ganz einfach zu sagen: die Vertriebenen haben den gleichen Anteil an der deutschen Schuld wie alle anderen Deutschen. Aber ihr Anteil ist nicht, wie gerne unterstellt wird, größer als der der Nicht-Vertriebenen.

Diese Abwehrreflexe sind noch 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wirksam. Anders lassen sich die aufgepeitschten Debatten um das Sichtbare Zeichen - Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung nicht erklären. Die Emotionen, die auf allen Seiten damit verbunden sind, zeigen deutlich, dass es sich hier um etwas nach wie vor Unerledigtes handelt, dass dieses Kapitel immer noch nicht abgeschlossen ist.

Fortsetzung am kommenden Montag.