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Montag, 1. November 2010

Heimatverbot

Ein prominenter wie auch besonders radikaler Vertreter der Heimatproblematik ist der Schriftsteller Franz Fühmann. 1922 in Rochlitz (Rokytnice) im böhmischen Riesengebirge geboren, ging er in Wien und Reichenberg (Liberec) zur Schule, machte in Hohenelbe (Vrchlabí) Abitur und lebte und arbeitete nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft seit 1949 in der DDR, in Märkisch-Buchholz bei Berlin. Zwei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1984 reflektierte er über seine Herkunft in einem öffentlichen Gespräch mit Winfried F. Schoeller:

Fühmann: »Zu den Gründen, warum mich diese Landschaft (das Bergwerk) so fasziniert, kommt hinzu: Ich habe ja meine angestammte, urpoetische Heimat Böhmen verleugnet wie Petrus den Herrn, wenn auch aus ehrsamen Motiven. Ich wollte nicht ins gleiche Boot kommen mit diesen Trachtenpflegern und Heimatvereinen. Ich habe mir gesagt: das ist aus und vorbei, die Umsiedlung ist geschehen, ich habe die Heimat gewaltsam getilgt. In den ›zweiundzwanzig Tagen‹ habe ich in einem kleinen Abschnitt darüber geschrieben. Johannes Bobrowski machte das mit seiner litauischen Heimat nicht. Er hat seine Landschaft hinübergerettet und bewahrt.«

Schoeller: »Sie haben sich in die historische Einsicht, daß dieses Problem der Heimatvertriebenen erledigt ist, gefügt und deshalb nicht über Böhmen geschrieben?«

Fühmann: »Ich habe sogar noch etwas mehr gemacht: ich habe sie getötet. [...] Das ist ein Problem. Man kann sich die Heimat doch so verleiden, daß man sie für sich tötet. [...] Ich habe mir die Heimat richtig verboten: Du treibst dich jetzt nicht auf den Bergen herum! Ich habe versucht, der märkischen Landschaft etwas abzugewinnen, was nicht geht. Ich bin kein Märker, nicht dort aufgewachsen.

Dieses Heimatverbot war sicher eine Komponente mit, daß mir die Lyrik abgestorben ist - nicht die wesentliche, aber doch eine. Nun entdecke ich das Gebirge gewissenmaßen nach unten geklappt und krieche dort herum.«

(Franz Fühmann: Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Ein Lesebuch, Hamburg 1983, S. 378 f.)



Fühmann, Franz:
Zweiundzwanzig Tage oder
die Hälfte des Lebens
,
Hinstorff Verlag 1999
Foto: © buchhandel.de
Gerade gegen Ende seines Lebens übte der Topos des Bergwerks eine starke Anziehungskraft auf Fühmann aus. Das Bergwerk mit seinen unterirdischen Verästelungen wurde für ihn zu einem Sinnbild für die Auffindung, das Aufspüren verschiedenster Bezüge und Bindungen, die in seinem Leben bedeutungsvoll waren. Der Auszug aus den Zweiundzwanzig Tagen, auf die Fühmann in dem obigen Zitat anspielt, räumt sein spätes Bedauern über die Radikalität ein, sich die Heimat verboten zu haben, eine Härte, die sich zerstörerisch auf sein lyrisches Schaffen ausgewirkt hat:

»Ich muß gestehen, daß ich anfangs seiner (Bobrowskis) Lyrik schroff ablehnend gegenüber stand, ja in ihr etwas Unerlaubes gesehen habe: das Wachhalten, vielleicht sogar Wiedererwecken von Gefühlen, die aussterben mußten, Sentiments der Erinnerung an die Nebelmorgen hinter der Weichsel und den süßen Ruf des Vogels Pirol... Ich hatte wohl eine ehrenhafte, aber sehr enge Auffassung vom Bewältigen der Vergangenheit, und ich bin dem eigenen Lied auf die Kehle getreten. Doch aus der Geschichte läßt sich nichts tilgen, kein einziger Aspekt und kein einziges Gefühl [...]. Nicht ein ›Es war nie gewesen‹ und auch nicht ›Als ob es nie gewesen wäre‹, sondern nur ›Es war so und ist vorbei‹ ist der sichere Grund, ein Neues zu bauen.«

(Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens, Rostock 1973, S. 139)

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.