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Montag, 4. Oktober 2010

Neue Heimat

Was fragte neulich ein junger polnischer Wissenschaftler in Kreisau? Ob in Deutschland der schlesische, also der nieder- und mittelschlesische Dialekt noch viel gesprochen würde? Die Antwort, dass dieser Dialekt so gut wie ausgestorben sei, empfand er als traurig, »denn wir wollen doch wissen, wie die Leute, die früher hier gelebt haben, gesprochen haben.«

Die Breslauer Bürgerschaft als ganze entwickelt immer stärker einen Lokalpatriotismus, der der vergangenen Zeiten nicht nur eingedenk ist, sondern sie sogar als das Eigene einzugemeinden versteht. So waren neulich im Bremer Kunsthandel sehr wertvolle schlesische Silberschmiedearbeiten aus dem 17. Jahrhundert aufgetaucht. Der Breslauer Bürgermeister wollte sie erwerben, es fehlte ihm jedoch an Geld. Gerade die Hälfte konnte er zur Verfügung stellen. Dann startete er zusammen mit der Gazeta Wyborcza einen Aufruf an die Breslauer Bürgerschaft, an Firmen, Unternehmen, Einrichtungen und Privatpersonen, für den Erwerb des schlesischen Kunsthandwerks Gelder aufzubringen und zu sammeln. Tatsächlich bekamen sie die 1, 3 Millionen Euro zusammen, um die Kunstgegenstände erwerben zu können, um sie nun stolz in ihrem Stadtmuseum zu präsentieren, »denn sie gehören doch in unser Breslau.«

Gedenktafel für Max Herrmann-Neiße
am Berliner Kurfürstendamm
Foto: de.wikipedia.org
Junge Studenten interessieren sich für den so lange ausgesparten Hohlraum der deutschen Geschichte der Stadt und der Region Schlesien, sie unternehmen freiwillig im Sommer Exkursionen zu den Festungsbauten Friedrichs II., empfinden ein Gedicht von Max Herrmann-Neiße (aus dem schlesischen Neiße), »Breslauer Winternacht«, als das schönste Gedicht über Breslau, erobern sich ihre Stadt auf den Spuren Edith Steins, schlüpfen also sozusagen in die Rolle von Deutschen, die in der Vergangenheit herumsuchen, und werden dann auch passenderweise vor der Schule von Edith Stein von aus den Fenstern schauenden Anwohnern als »niemcy, niemcy!«, also als Deutsche tituliert. Sie freuen sich über einen literarisch gar nicht bedeutenden Text aus dem 19. Jahrhundert, der eine Gegend im Norden der Stadt als Verbrechergegend beschreibt, da sie feststellen, dass auch heute dieses Stadtviertel keinen guten Ruf hat. Ihre Freude gilt der Unverwüstlichkeit eines - wenn auch negativen - genius loci, der trotz Vertreibung und Neubesiedlung in der Stadt wirksam sein muss. Und ein polnischer Student, der in Breslau geboren ist und erst ganz normal, also ungebrochen, dort aufwuchs, erzählte, dass ihm im Alter von siebzehn Jahren die Stadt mit ihrer anderen Architektur und Geschichte plötzlich fremd wurde. Es habe erst des Oderhochwassers 1997 bedurft, dass er sich im Kontakt mit den Sandsäcken, den Steinen, dem Wasser, also durch eine Art haptischen Kontakt der Stadt vergewisserte und seither durch die konkrete Rettung der Stadt ein neues Heimatgefühl Breslau gegenüber verspüre. Ob durch die archäologische Rekonstruktion deutsch-antiker Schichten mittels des Kommissars Eberhard Mock, ob durch detektivische Stadtspaziergänge, ob durch den Erwerb schlesischer Kunstgegenstände oder durch den direkten Kontakt mit der städtischen Substanz beim Oderhochwasser - all diese Möglichkeiten dienen dazu, aus der fremden Stadt, der fremden Region eine vertraute Stadt, ein vertrautes Land zu machen, eine heimatliche Verwurzelung ohne Amputation und Amnesie.

Das ist ein emphatischer Begriff von Heimat. Der polnische Historiker und Kulturwissenschaftler Robert Traba hingegen verficht einen viel nüchterneren, wie er sagt moderneren Heimatbegriff. Seine Erfahrung von Heimat, allerdings nicht in Breslau, sondern im Masurischen, sei, dass verschiedene nationale bzw. ethnische Gruppen, die sich durch die Zeitläufte mehr oder weniger unfreiwillig in einer Region einfanden, die zusammengewürfelt sind, es miteinander aushalten müssen. Heimat ist für ihn ein Wohl-oder-übel-Gefühl, es ist das Zusammenfügen und halbwegs friedliche Zusammenleben von Heterogenem, so von Ukrainern, Masuren und Polen an einem Ort. Mehr, so meint Robert Traba nüchtern, kann man nach den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts von Heimat nicht verlangen.