Posts mit dem Label Schlesien werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Schlesien werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Donnerstag, 5. April 2012

Buchpräsentation »Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren an der Spree« am 18. April 2012 im Roten Rathaus Berlin

In ihrem letzten Beitrag an dieser Stelle vor gut einem Jahr kündigte Roswitha Schieb das Erscheinen des Buches Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren an der Spree an. Nun ist es soweit, am Mittwoch, d. 18. April 2012, wird das Buch aus dem Verlag des Deutschen Kulturforums östliches Europa im Berliner Roten Rathaus zum ersten Mal präsentiert. Roswitha Schieb wird mit zahlreichen Lichtbildern ihre Arbeit vorstellen; das Salonorchester Berliner Melange umrahmt die Veranstaltung musikalisch durch Stücke von Berliner Komponisten, die aus Schlesien stammten.

Weitere Informationen zur Veranstaltung finden Sie auf der Website des Kulturforums: ► www.kulturforum.info
 
unter issu.com

Montag, 28. Februar 2011

Schlesische Spuren

Das Wappen von Gleiwitz  
Foto: © Barbara Gafert

Im Innenhof des Rathauses Wilmersdorf am Fehrbelliner Platz befinden sich 27 Mosaik-Wappen »ehemals ostdeutscher Länder und Städte«, die der bereits erwähnte schlesische Künstler Peter Ludwig Kowalski für die alte Hohenzollernbrücke anfertigte. Als die Brücke der Stadtautobahn weichen musste, wurden die Wappen 1957 im Innenhof des Rathauses Wilmersdorf angebracht. Sieben Wappen von schlesischen Provinzen befinden sich darunter: Niederschlesien, Breslau, Liegnitz, Neiße, Oberschlesien, Gleiwitz, Oppeln. Eine Tafel von 1992 erläutert unaufgeregt den Umgang mit den historischen Bezügen:

Donnerstag, 24. Februar 2011

Schlesien in der DDR

In Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, gab es keine öffentlichen Hinweise auf die Vertreibungen. Im Gegenteil: es durfte in der dortigen Terminologie nicht einmal von Vertreibung gesprochen werden, sondern nur von Umsiedlung. Die westlichen Vertriebenenverbände wurden als Hort des Revanchismus gebrandmarkt, Vertriebene, die sich in West-Berlin beispielsweise im Park-Café am Fehrbelliner Platz trafen, von der Stasi durch sogenannte Opa-IM's ausgehorcht. 1950 wurde der Schlesische Bahnhof, obwohl die sowjetischen Streitkräfte den Namen 1945 sorgfältig in »Sileskij Woksal« oder »Berlin sileskije« auf den Bahnhofsschildern ins Kyrillische transkribiert hatten, zunächst in Ostbahnhof, dann in Hauptbahnhof umbenannt, die zum Schlesischen Bahnhof hinführende Breslauer Straße in die Straße Am Ostbahnhof. In den Stasi-Akten galt der Status als »Umsiedler« in den fünfziger Jahren als etwa so negativ wie in anderen Akten die Tatsache der NSDAP-Mitgliedschaft – eine unterstellende Verquickung, die bis heute im fast reflexhaften Kurzschluss Vertriebener = potentieller Nazi immer noch wirksam ist. Historisch ist dieser Kurzschluss ungerechtfertigt: betrug bei den letzten Wahlen vor der Machtergreifung die Zustimmung zur NSDAP in bestimmten katholischen Regionen Schlesiens nur 28 Prozent, in Niedersachsen hingegen mancherorts über 60 Prozent – kein Grund also, unterstellend auf Schlesier herabzuschauen.

Donnerstag, 17. Februar 2011

Mystisches Glas

Die Frömmigkeit, die die katholischen Schlesier vor allem aus Oberschlesien mitbrachten, fand im kargen, preußischen Berlin wenig Widerhall. Die östlich geprägte religiöse Inbrunst konnte leicht als Aberglauben missverstanden werden. Schlesische Katholiken, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in Berlin assimilieren wollten, taten gut daran, ihre Frömmigkeit nur im Schutz ihrer Kirchen und Familien auszuleben. Auch die mystische Tradition, wie sie in Schlesien mit prominenten Vertretern wie Jakob Böhme, Daniel Czepko von Reigersfeld oder Angelus Silesius seit dem 17. Jahrhundert konfessionsübergreifend lebendig war, fiel in Berlin nicht zwangsläufig auf fruchtbaren Boden. Da bedurfte es einiger Umwege.

Donnerstag, 10. Februar 2011

Religion

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wuchs im Zuge der Industrialisierung die Bevölkerung Berlins sprunghaft an. Soziologisch gesehen war die Bevölkerungsexplosion vor allem dem enormen Zustrom von Arbeitskräften aus allen Provinzen, bevorzugt aus Schlesien, dem angestammten Berliner Hinterland geschuldet. Da Schlesien konfessionell geteilt war, brachten die Zuwanderer aus Schlesien entweder ihren evangelischen oder katholischen Glauben mit. Für die Protestanten aus Schlesien war es in Berlin einfacher, religiös heimisch zu werden und sich zu assimilieren, da die Stadt protestantisch geprägt war. In vielen bereits existierenden Kirchen und Gemeinden konnten sie sich eingliedern, ja einschmelzen. Sie befanden sich nun im Zentrum der traditionellen preußischen Verquickung von Thron und Altar. Natürlich mussten auch im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert aufgrund des Anwachsens der evangelischen Gemeinden viele repräsentative Kirchenbauten im zeittypisch neoromanischen, neogotischen oder später im expressionistischen Stil errichtet werden. Aber da die meisten älteren und alle ältesten Kirchen der Stadt, die Dorfkirchen, protestantisch waren, wirkten die Neubauten wie organische Erweiterungsbauten auf einer angestammten Glaubensschicht.

Montag, 20. Dezember 2010

Schlesische Weißwürste

Schlesische Weißwürste waren das traditionelle Essen zu Heiligabend und Silvester in Schlesien. Sie bestehen aus Kalbfleisch, heute auch oft aus Schweinefleisch, sowie aus Schweinespeck, beide Bestandteile extrem fein unter Beigabe von Eis gekuttert, d. h. feiner als mit dem Fleischwolf zerkleinert. Entweder erhitzt man die Würste langsam im Wasser oder brät sie in Butter. Dieses typisch schlesische Heiligabendessen wird zusammen mit Kartoffeln oder Kartoffelbrei und Sauerkraut serviert.

In Berlin und Umgebung gibt es mehrere Fleischereien, die zur Weihnachtszeit schlesische Weißwürste anbieten, so die Neuland-Fleischerei Bachhuber, die Wurstabteilung des Kadewe und andere Fleischereien. Zum Beispiel die Fleischerei Grönke. Sie betreibt das Geschäft heute in dritter Generation, zog von der Bernauer Straße nach dem Zweiten Weltkrieg zum Prenzlauer Berg und von dort im Jahr 2004 nach Hohen Neuendorf ins nördliche Berliner Umland. Die Tradition, jährlich zur Weihnachtszeit schlesische Weißwürste herzustellen, etablierte sich schon vor etlichen Jahrzehnten. Da der Großvater des heutigen Betreibers aus Schlesien stammte, brachte er von dort das Rezept für die Würste mit. Diese werden hier aus Schweinefleisch unter Zusatz von frischem Zitronensaft und frischer Petersilie hergestellt. Ein Teil der Kunden kannte und kennt diese schlesische Weihnachtstradition aus eigener Erfahrung. Aber auch viele Berliner und Brandenburger, denen diese Würste zunächst fremd waren, kauften sie aus Neugierde. Da sie großen Anklang finden, müssen die Würste zur Weihnachtszeit immer vorbestellt werden und sind schnell ausverkauft. Ein Bekannter des Fleischers schlug aufgrund der Beliebtheit der Würste einmal vor, diese immer im Angebot zu führen. Diesen Wunsch musste der Fleischer ihm aber abschlagen: »Nein, schlesische Weißwürste gibt es nur zu Weihnachten. Das ist und bleibt etwas ganz Besonderes.«

Die Fleischerei Ullrich in Tempelhof, ein Familienbetrieb, bietet seit 1967 ganzjährig schlesische Wurstwaren an. Sie führt ständig vier bis fünf verschiedene schlesische Wurstsorten, so u. a. schlesische Wellwurst, schlesische Schinkenkrakauer, Breslauer, und zur Weihnachtszeit natürlich auch schlesische Weißwurst, aus Kalbfleisch hergestellt und mit Zitrone und Petersilie verfeinert. Eigene familiäre Bezüge des heutigen Fleischermeisters zu Schlesien gibt es nicht. Sein Vater hatte jedoch in Wittenberg bei einem schlesischen Fleischer gelernt und danach in verschiedenen Berliner Fleischereien gearbeitet, die von Schlesiern betrieben wurden. Erst dann machte der Vater sich selbstständig und nutzte sein schlesisches Fachwissen, um seinem Geschäft diese besondere Ausrichtung zu geben. Der Sohn führt die Tradition fort. Viele Kunden, die schlesische Wurzeln haben, kaufen bei ihm. Hin und wieder belieferte die Fleischerei Treffen des Schlesierverbandes im Deutschlandhaus mit Wellwurst und anderen schlesischen Spezialitäten. Ein zusätzlicher Wurststand in der Arminius-Markthalle führte zu einer großen Beliebtheit der schlesischen Wurstwaren auch in Berlin-Moabit.

Besonderer Beliebtheit erfreuen sich die schlesischen Blut- und Leberwürste mit dem dazugehörigen Sauerkraut. Die Fleischerei erhielt schon etliche bundesweite Auszeichnungen, vor allem für ihre schlesischen Wurstwaren, mehrfach hintereinander wurde ihr sogar der Titel »Berliner Bratwurstmeister« verliehen. Was sagte mir der Fleischermeister? Nach dem Krieg seien ja fast zwei Drittel aller Berliner Fleischer Schlesier gewesen. Und, wie es unter Fleischern hieß: »Jeder gute Berliner Fleischer kommt aus Schlesien.«

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 16. Dezember 2010

Mohn

Die Bäckerei Hutzelmann in Charlottenburg nennt sich »Schlesische Backstube«. Seit den zwanziger Jahren in Familienbesitz, existiert der Laden in der Wilmersdorfer Straße seit 1957. Der Großvater der heutigen Bäckerin kommt aus der Oppelner Gegend und hat von dort die schlesischen Backrezepte mitgebracht. Die Bäckerei bietet verschiedene Mohnkuchen, preisgekrönte Mohnstollen, Liegnitzer Bomben, schlesischen Butterstreußel in mehreren Variationen und schlesische Quarkpiroggen an. Überhaupt wird viel mit Hefe gebacken. Die Kunden sind zum Teil Berliner Anwohner, zum Teil kommen sie auch von weiter her gezielt in diese Bäckerei, weil sie schlesische Wurzeln oder eine besondere Vorliebe für schlesisches Backwerk haben. Bis in die achtziger Jahre hinein, so erzählt die Bäckerin, sei der Satz »Jeder gute Berliner Bäcker kommt aus Schlesien« zu Recht im Umlauf gewesen. Nun seien sie die einzige Backstube dieser Art in Berlin. Zu ihrer großen Freude habe sie eine Bezugsquelle für Mohn aus der Umgebung von Breslau aufgetan, wo es den guten Blaumohn gibt, der dann in der Backstube nach traditionellem Verfahren lange in einem großen Kessel gebrüht wird. Man schmeckt es.

Mohnklöße bilden zum traditionellen schlesischen Weihnachts- und Silvesteressen den Nachtisch. Sie bestehen aus Mohn, eingeweichten Brötchen, Mandeln und Rosinen in süßer Milch. Ein Schuss Rum nimmt dem Gericht das Klebrige und macht es pfiffiger. Dem berühmten, aus Breslau stammenden Theaterkritiker Alfred Kerr, der 1887 von Schlesien nach Berlin ging und sich dort wie ein Fisch im Wasser tummelte, fehlten in der deutschen Hauptstadt zu seinem Vollglück nur zwei Dinge, derer er sich mit Wehmut erinnert: Bauerbissen, also eine Art großer Pfefferkuchen, und schlesische Mohnklöße:
»Bauerbissen, sicher der erdgerüchigste aller Pfefferkuchen, den man in Schlesien für einen Sechser pfundweise fröhlich aß, er lässt sich nicht aus der Erde stampfen. Verschollen sind die Tage, wo uns die Kinnbacken schmerzten, vom vielen Kauen des frischen, weichen Zeugs. Bauerbissen, du bist ein Mythus, du lächelst herüber aus der Geisterwelt, grüßend und dich neigend und einsam verschwindend. Bauerbissen, du bist die Vergänglichkeit. Bauerbissen, du bist die Ahnung des ersten grauen Haars. Bauerbissen, nie werde ich dich wieder so fressen (es muss heraus, das schändliche Wort) wie einst im Dezember. Bauerbissen, was hier unter deinem Namen verschleißt wird, ist altes Leder. Die Zähne bricht man sich aus; und es schmeckt nach Wichse.«

Gedenktafel für Alfred Kerr am Haus
Höhmannstraße 6 in Berlin-Grunewald
Und auch der Vergleich der schlesischen Mohnklöße mit den Berliner Mohnpielen fällt für letztere verheerend aus:
»Und auch ihr, meine lieben Mohnklöße, seid eine Melancholie, ein Märchen aus alten Zeiten. Ihr seid versunkene Kränze. Semmel im Wasser mit schwarzem Mohn und Vanille, darin liegt eure Größe. Hier nennt man euch – uäh, uäh! – Mohnpielen. Das ist die gemengte Speise aus süßlichem Rosenwasser, mit kleinen glitschigen Würfelchen und weißem fadem Mohn und etwas Zucker, und schmeckt nach nichts. [..] Mohnklöße meiner Jugend, lebt wohl. Zieht hinab den leuchtenden Strom der Vergänglichkeit, in die Dämmerung, in die seltsam dunkle Ferne, wo die große Stille herrscht.« (Alfred Kerr, Mein Berlin. Schauplätze einer Metropole, S.153f.)

Auch bei Fontane spielen Mohnpielen eine Rolle, in seinem Romanerstling Vor dem Sturm nämlich, und auch hier ist die Rolle fragwürdig. In dem Kapitel »Bei Frau Hulen« (3. Band, 4. Kapitel) lädt Frau Hulen, die Berliner Zimmerwirtin des adligen Protagonisten, Gäste ein und bewirtet sie mit etlichen Gerichten. Mohnpielen, »auf dem Mohn eine dichte Lage von gestoßenem Zimt«, werden hier als erster Gang gereicht. Die ganze Szene ist als Zerrspiegelung des Gesellschaftslebens der großen Welt auf Kleinbürgerniveau angelegt. Gespräche misslingen, Eitelkeiten werden verletzt, Bildungsgehabe misstrauisch beäugt. Es ist ein Kabinettstückchen der Abgrenzung von millimeterfeinen Standesunterschieden. Zum Schluss ist nur Frau Hulen restlos zufrieden. Alle anderen Gäste streben auf der Straße auseinander und versichern sich ehepaarweise, das man dort nicht mehr hingehen könne. Und ein besonders triftiges Argument dabei lautet:
»Die Hulen ist eine gute Frau, aber was waren das für Pilen? Semmelstücke, und das bißchen Mohn kratzig und multrig.«

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 6. Dezember 2010

Berliner Bären

Renée Sintenis: Berliner Bär
auf dem Mittelstreifen
der Autobahn südlich des
ehemaligen Kontrollpunkts
Dreilinden
Der Reisende, der sich Berlin auf der Autobahn nähert, trifft an der nördlichen, der südlichen und der östlichen Stadtgrenze auf je einen Berliner Bären. Wer von Süden oder Westen kommt, sieht auf dem Mittelstreifen der Autobahn 115 an der ehemaligen Grenzübergangsstelle Dreilinden einen schreitenden Bären, geschaffen von der Bildhauerin Renée Sintenis. Diese Bronzeskulptur wurde 1957 aufgestellt und erfreut sich im Kleinformat großer Prominenz, da eine versilberte bzw. vergoldete Miniatur dieser Skulptur jedes Jahr den Preisträgern der Internationalen Filmfestspiele Berlinale verliehen wird. Nach der Wende wurde auf dem Mittelstreifen der östlichen Autobahn 113 kurz vor dem Tunnel Altglienicke ein Abguss des Renée-Sintenis-Bären von Dreilinden aufgestellt.

Günter Anlauf, 1983
Berliner Bär auf der Autobahn 111
Wer auf der Autobahn 111 von Norden kommt, trifft an der Stadtgrenze zwischen Stolpe Süd und Schulzendorf, am ehemaligen Grenzkontrollpunkt Stolpe-Heiligensee auf einen sitzenden Bären, der zierlich sein Beinchen vom Berlin-Sockel herunterhängen lässt. Dieser Bär wurde im Jahr 1983 vom Bildhauer Günter Anlauf geschaffen.

Grabstein Wilhelm Kuhnert
auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf
Foto: © www.wikipedia.de
Beide Künstler sind auf Berliner Friedhöfen beerdigt, Renée Sintenis im Jahr 1965 auf dem Waldfriedhof Berlin Dahlem, Günter Anlauf im Jahr 2000 auf dem Friedhof Heerstraße. Beide Künstler sind vor allem durch die Gestaltung von Tierplastiken hervorgetreten. Und, was hier entscheidend ist, beide Künstler stammen aus Schlesien. Renée Sintenis wurde 1888 im schlesischen Glatz, Günter Anlauf 1924 in Großhartmannsdorf/Landkreis Bunzlau geboren. Nach eigenen Angaben wurde bei ihm schon in der Schule mit dem guten Bunzlauer Ton modelliert, woher sein Hang zum Plastischen und Ornamentalen rühre. Im nächsten Blogeintrag werden wir mehr über Günter Anlaufs Tier-Figuren in Berlin hören. Renée Sintenis wird im Buch Erwähnung finden. Hier ist es wichtig festzuhalten, dass die beiden Künstler einen schlesischen Vorläufer hatten: den 1865 aus Oppeln stammenden Friedrich Wilhelm Kuhnert, berühmtester Tiermaler um 1900. Nachdem dieser von Schlesien nach Berlin gezogen war und dort seine künstlerische Ausbildung absolviert hatte, unternahm er von Berlin aus Reisen in den Norden, nach Ägypten, Ostafrika und Indien, um Landschafts- und Tierstudien vorzunehmen. Anders als seine Kollegen zeichnete er die exotischen Tiere nicht in den Zoos, sondern nach der freien Natur. Zum berühmten zoologischen Werk "Thierleben der Erde" (1901) von Johann Wilhelm Haacke schuf Kuhnert die lebensechten Illustrationen. Sein Lieblingsmotiv waren allerdings nicht Bären, sondern afrikanische Löwen. So, wie der Berliner Pferdemaler Franz Krüger "Pferde-Krüger" genannt wurde, trug Kuhnert seine Leidenschaft für Löwen den Beinamen "Löwen-Kuhnert" ein. Auf seinem Findlingsgrabstein aus dem Jahr 1926 auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf ist ein erschöpft liegender Löwe als Reliefarbeit zu sehen.

Die Leidenschaft für Tiere, für ihre Bewegungen, für ihre körperliche Ausdruckskraft war auch für Renée Sintenis und Günter Anlauf ein Motor ihres Schaffens. Es mag Zufall sein, dass es ausgerechnet zwei aus Schlesien stammende Künstler sind, deren Bärenskulpturen die Stadt Berlin wie mit einer Klammer einrahmen. Aber es ist ein schöner Zufall.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 2. Dezember 2010

Schlesisches Himmelreich

Beim Essen hört die Antike auf. Die Welt ist groß und jetztzeitig, und fast ebenso groß ist die Auswahl an verschiedenen Restaurants und Küchen in Berlin. Je nach Mode boomen eine Weile lang die mexikanischen Restaurants, werden von japanischen abgelöst und diese dann wieder von den thailändischen und den indischen, bis sich alles auf ein normales Maß zurechtegrüttelt hat und mehr oder weniger freundlich koexistiert. Persische Restaurants liegen neben afrikanischen, nepalesische Restaurants neben russischen. Boomt eine Zeitlang das Niegehörte, Niegesehene, Niegegessene, Krokodil und Känguruh oder echte chinesische Küche für Chinesen mit seltsamen Eingeweide und undefinierbaren Zutaten, so gibt es gleichzeitig auch wieder einen Hang, ja fast einen Drang zur traditionellen, bodenständigen, regionalen Küche, zur bayrischen, zur schwäbischen, zur österreichischen und sogar zur böhmischen Küche, wie sie ja heute in Böhmen, in Prag immer noch lebendig ist. Lateinische Küche aber gibt es nicht. Ebenso sucht man schlesische Restaurants im Berliner Stadtbild vergeblich, fast scheint die Küche, wie der niederschlesische Dialekt, ausgestorben zu sein. In Breslau, in Mittel- und Niederschlesien sind mir keine Restaurants begegnet, die die deutsche Küche pflegen. Am Breslauer Ring wird dagegen das Restaurant Karczma Lwowska betrieben, das mit altpolnisch-lemberger Küche aufwartet. Nur in Görlitz, nach der Wende plötzlich der letzte deutsche Zipfel Niederschlesiens, hat man die kulinarischen Traditionen Schlesiens wiederbelebt. Dort gibt es mit einem Mal in einigen Restaurants Schlesisches Himmelreich und schlesische Linsensuppe mit einer Kelle heißen Sauerkrauts in der Tellermitte, in etlichen Bäckereien viel typisches Mohngebäck und schlesischen Sträßelkuchen. Hier scheint also (noch? wieder?) eine Tradition lebendig zu sein.

Die ganze Zeit schon möchte der Berliner Restaurantkenner ungeduldig widersprechen. Natürlich gibt es in Berlin schlesische Restaurants. Das Restaurant Kolk in Spandau zum Beispiel, das seit 1989 Spezialitäten aus Schlesien, Ostpreußen und Berlin anbietet, nach eigener Aussage deswegen, weil die Vorfahren der heutigen Restaurantbesitzer teils aus Schlesien und teils aus Ostpreußen stammen. Hier gibt es die oft süß-saure schlesische Küche, hier gibt es zum Nachtisch schlesische Mohnklöße. Hier kann man wohlschmeckende und gehaltvolle Gerichte bekommen, die auf diese Weise vorm Aussterben bewahrt werden.

Weitere Restaurants in Berlin, die schlesisch in ihrem Namen trugen, das deutsch-schlesische Restaurant Gourmand-Smakosz in Moabit, Kochs Brunnen Gasthaus mit polnisch-schlesisch-deutscher Küche am Prenzlauer Berg sind kürzlich eingegangen. Aber das schlesisch-böhmische Restaurant Duett in Steglitz und das schlesische Restaurant Chopin am Wannsee erfreuen sich größerer Beliebtheit. Letzteres bezieht sich kulinarisch sowohl auf die deutsche mittel-niederschlesische als auch auf die polnisch-oberschlesische Küche, in der Pirogen, Barczsz, Bigos und Żurek (Sauerteigsuppe) angeboten wird. Mein Vater erzählte, dass eine Kolumne, die er in der Zeit um 1930 im oberschlesischen Lokalblättchen gerne gelesen habe, den Titel trug »Wo der Żur dampft«, was so viel bedeutete: wo man gemütlich beisammen sitzt und die neuesten Geschichten erzählt. In diesem Restaurant dampft sicherlich der Żur, wahrscheinlich sogar der Żurek królewski, der Königs-Żur. Und nicht nur dass hier das Schlesische Himmelreich, die schlesische Bouillon mit Fadennudeln, der Sauerbraten und die schlesischen Mohnpielen vorm Aussterben bewahrt werden, ist erwähnenswert, sondern dass zur Weihnachtszeit polnische Gänse mit einer Rosinen-Mandelsoße und Klößen von den polnischen Restaurantbetreibern in ein typisch schlesisches Gericht verwandelt werden.

Auch das Restaurant Schlesisch Blau in Kreuzberg wird übrigens sehr gelobt. Aber der Name lockt auf eine falsche Fährte. Die Küche ist rein französisch und der Name rührt lediglich von seiner Lage her: der Nähe zum Schlesischen Tor.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 29. November 2010

Allerheiligen

Hedwigsfriedhof
Nur zu Allerheiligen tummeln sich die Angehörigen etlicher Verstorbener auf den katholischen Friedhöfen Berlins. Viel mehr rote Grabkerzen als sonst üblich brennen an diesem katholischen Feiertag. Einige Gräber auf dem Hedwigsfriedhof, meistens polnische oder oberschlesische, sind mit Kerzen, Grableuchten und Laternen geradezu überhäuft, kleinen flackernden Inseln gleich, die sich gegen das graue Licht des Novembers anstemmen. Hastig werden gelbe Ahorn- und Buchenblätter von den Gräbern geharkt, die sich bislang auf alle Gräber und Wege gleichmäßig verteilt hatten. In das Geraschel der Blätter mischt sich regelmäßig das Gezischel der S-Bahn. Dann wird es stiller. Noch wölben sich die orangegelben Hauben der Trauerbuchen über den Gräbern. Nach ein, zwei Herbststürmen werden sie kahl sein. Dann wird der Schnee kommen und der Frost. Die eine oder andere Grabstätte wird durch den kommenden Winter, durch Kälte und Frost beschädigt, gesprengt, verwittert. Schon jetzt rutschen manche Grabaufbauten ab und zerfallen. Die Krähen werden sich auf den kahlen Ästen niederlassen als schwarze, ungenießbare Winterfrüchte.

Leider ist es nicht üblich, auf Grabsteinen den Geburtsort zu verzeichnen. Dabei sind es auf dem Hedwigsfriedhof 2 an der Smetanastraße in Berlin-Weißensee sicher weit über fünfzig Prozent der Bestatteten, die aus Schlesien stammen. Man erkennt es an den Namen. Die typisch mittel-niederschlesischen Namen wie Witzel, Giesel, Wenzel, Zobel sind dabei weniger stark vertreten als typisch oberschlesische Namen wie Knossalla, Cimbollek, Skrobotz, Kaluza, Kamionka, Czwak, Kudelka, Tlach, Laschewski, Woitrik, Smala, Przyniczynski, die meisten im ausgehenden 19. Jahrhundert geboren. Es ist ein unspektakulärer Friedhof. Aber er zeugt von der Arbeitsmigration aus Schlesien nach Berlin um 1900. Viele der Ankömmlinge versuchten, dem sozialen Elend der schlesischen Viertel um den Schlesischen Bahnhof und das Schlesische Tor herum zu entgehen. Viele siedelten sich in Weißensee an. Auch dieser Friedhof wird zu Allerheiligen mit vielen roten Grabkerzen geschmückt und leuchtet still in seiner Abgeschiedenheit.

Hedwigsfriedhof im November
Weniger romantisch ist der Hedwigsfriedhof 3 an der Ollenhauerstraße in Reinickendorf gelegen. Im Dreiminutentakt schwebt ein Flugzeug nach anderen geräuschvoll und riesig herab, um auf dem nahen Flughafen Tegel zu landen oder von dort zu starten und ebenso geräuschvoll wieder am Himmel zu verschwinden. Pfarrer Josef Lenzel ist dort begraben. 1890 in Breslau geboren, kümmerte er sich während des Zweiten Weltkriegs in seiner Pfarrei in Berlin-Niederschönhausen um die polnischen Zwangsarbeiter, half ihnen und betreute sie seelsorgerisch. 1942 wurde er von der Gestapo verhaftet und starb im selben Jahr im KZ Dachau. Drei Gedenktafeln und zwei Straßenbenennungen in der Stadt zeugen von seinem mutigen Wirken in Berlin. Auch ihm brennen zu Allerheiligen rote Lichter.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 25. November 2010

Hedwigsfriedhof 1

Der alte katholische Domfriedhof der Hedwigskathedrale an der Liesenstraße lag nach 1945 zwischen den östlichen und westlichen Machtblöcken, nach 1961 auf dem Todesstreifen, dem Vakuum des Kalten Krieges. Nach der Wende war er wieder allen zugänglich, aber gerupft, geplündert, vieler Gräber beraubt. Reste der Berliner Mauer umgrenzen ihn an der einen Seite, hohe Brandmauern und eine weite Wiese mit Gräbern des protestantischen Domfriedhofs an der zweiten Seite und Gräber des französisch-reformierten Friedhofs, darunter das Ehrengrab Theodor Fontanes, an der dritten Seite. Zwischen 1961 und 1989 waren diese Friedhöfe schwer bewacht, die Gräber, die genau im Mauerstreifen lagen, wurden entfernt, die Grabsteine teilweise dazu benutzt, einen Kolonnenweg für die Fahrzeuge der Grenzpatrouillen anzulegen.

Grabstein des Priesters Otto Scholz
im Hedwigsfriedhof
Der alte Domfriedhof der St. Hedwigsgemeinde an der Liesenstraße wurde 1834 geweiht und ist heute der älteste katholische Friedhof der Stadt. Da die Hedwigskathedrale vor allem für schlesische Katholiken, besonders für den Adel, errichtet worden war, fanden sich ursprünglich viele Gräber von Schlesiern auf dem ersten katholischen Friedhof am Oranienburger Tor, der heute nicht mehr existiert, da er von Wohnhäusern überbaut wurde. Doch auch auf dem Nachfolge-Friedhof an der Liesenstraße finden sich noch schlesische Spuren. Neben Gräbern von Rheinländern, Westfalen, Bayern, Österreichern, Franzosen, Italienern, Spaniern und Polen gibt es bzw. gab es auch immer wieder Gräber von Schlesiern. Durch die Zeitläufe verloren gegangen ist das Grab von Johannes Janda aus Kleindarkowitz bei Hultschin, eines klassizistischen Bildhauers im 19. Jahrhundert, der sowohl in Schlesien als auch in Berlin etliche Werke hinterließ, so die Heiligenfiguren für das katholische Hedwigskrankenhaus an der Hamburger Straße oder das Relief »Maria, dem Hl. Dominikus den Rosenkranz reichend« in der Pauluskirche in Moabit. Oder das Grab des einstmals berühmten Schauspielers Karl Seydelmann aus dem schlesischen Glatz, eines Freundes von Karl von Holtei. Oder das Grab des aus Schlesien stammenden Theologen, Domprobstes und NS-Widerstandskämpfers Bernhard Lichtenberg, das in die St. Hedwigskathedrale verlegt wurde. Doch auch heute noch finden sich Gräber von Schlesiern oder Personen, die maßgeblich mit Schlesien in Beziehung standen, Gräber von schlesischen Priestern aus Breslau, Lauban, Glatz oder das Grab des aus Rheine in Westfalen stammenden Franz Anton Egells, des Pioniers des modernen Maschinenbaus in Berlin am Oranienburger Tor, der 1829, um sich günstige Rohstoffe zu sichern, im schlesischen Reinerz eine Eisenhütte, die Egellshütte, erwarb. Bekannt wurde Egells auch dadurch, dass er zehn Jahre lang den jungen Schlesier August Borsig bei sich beschäftigte, bevor dieser sich noch erfolgreicher selbständig machte.

Der Hedwigsfriedhof im Herbst
Der Hedwigsfriedhof 1 an der Liesenstraße ist eine Oase der Zeitentrücktheit, die seiner besonderen Lage im Zentrum der weltpolitischen Verstrickungen geschuldet ist. Auf engem Raum, der weit wirkt, weil viele Lücken klaffen, gibt sich die katholische Welt Berlins ein Stelldichein. Verrostete Grabeinfassungen, einstmals prachtvoll, erinnern an liegengebliebene Kutschen aus Alt-Österreich. Niederschlesische Namen wie Barthel oder Hahnel und oberschlesische Namen wie Grzeszkiewicz, Wosnik oder Kolodziejski zeugen von vielfältigen schlesischen Mitgliedern der St. Hedwigsgemeinde. Die leere Wiese des protestantischen Domfriedhofs öffnet den Blick auf eine Weltlandschaft zwischen Brandmauern und Prachtgruften. Die Gräber, die in die Brandmauer eingelassen sind, wirken eingesunken wie antike Grabmale. Die Atmosphäre wird dichter unter den Fliederbüschen. Die S-Bahn rattert vorbei, sie quietscht und zischelt, bevor sie in den Tunnel zum Nordbahnhof eintaucht. Trauerbuchen bewachen eingesunkene Gräber, um die sich niemand mehr kümmert. Eisenkreuze rosten vor sich hin. Marmorgrabsteine stehen schief wie wackelnde Zähne. Kreuze mit Holzdächlein erinnern an den lieblicheren Süden. In der glühenden Hitze des Sommers sind die weiten Wiesen verdorrt und die langen Gräser hängen welk und verbrannt um die Kanten der Gräber. Im Herbst sind sie mit Laub überhäuft. Leer ist der Friedhof und einsam. Wer keine Heimat hat – hier kann er Ruhe finden.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 22. November 2010

Hydranten im Tiergarten

Man muss ins schlesische Kreisau fahren, um etwas über Berlin zu erfahren. Eingeladen war ich, um in Kreisau vor fünfzig deutschen, polnischen und ukrainischen Studenten etwas über deutsche und Lemberger Spuren in Breslau und über polnische Spuren in Lemberg, dem heute ukrainischen Lviv, zu erzählen. Neben einigen polnischen Historikern kam ich mit den Veranstaltern ins Gespräch, Rotariern, von denen einer polonophil war (»einmal Polen, immer Polen«), ein anderer gegen das Zentrum gegen Vertreibungen wetterte und ein dritter sich für den Erhalt von SS-Gräbern in Polen aussprach (»diese verführten jungen Männer«). Da fiel mir ein Rotarier auf, ein Theologe, der sehr bewandert war und interessiert an der Thematik der schlesischen Spuren in Berlin. Über die Firmenstempel von Beuchelt aus Grünberg/Schlesien am Bahnhof Friedrichstraße verständigten wir uns auf der Stelle. Er nahm an, dass ich dann auch die Hydranten im Tiergarten kennen müsste. Aber da konnte ich nur den Kopf schütteln. Wo denn im Tiergarten? Na, überall, im Umkreis des Großen Stern.

Hydrantendeckel im Tiergarten
Ich ließ die flachen Gebäude von Kreisau, den bunten Kinderspielplatz, den Innenhof von der Größe zweier Fußballfelder hinter mir zurück. In Berlin machte ich mich auf die Suche. Aber so einfach wie an der Friedrichstraße gestaltete sie sich nicht. Ich lief auf großen und kleinen Wegen unbestimmt durch den Tiergarten, schlängelnd vor und zurück und schaute mir nach den Hydranten die Augen aus dem Kopf. Ich stellte sie mir so vor wie jene, die auf den alten Berliner S-Bahnsteigen in die Höhe ragen, kleinen Männchen mit zwei kurzen Armen gleich. Ich fand sie nicht und ärgerte mich schon über meine Naivität, auf die vage Angabe eines mir Fremden hin im Berliner Tiergarten meine Zeit zu vertrödeln. Ich lief am Neuen See entlang und am Kanal, hin- und herspähend, bis mir der Gedanken kam, dass es im Tiergarten ja gar keine Hydranten zu gegeben brauchte, da die Feuerwehr im Brandfalle das Wasser je direkt aus den Gewässern pumpen könnte. Also schlängelte ich mich langsam durch schmale Wege zurück, Wege, benutzt von einsamen Männern und gesäumt von Papiertaschentüchern. Und da sah ich ihn: es war kein Hydrant, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, sondern ein ovaler eiserner Hydrantendeckel, der im braunen Laub des Bodens kaum auffiel. HYDRANT war darauf geprägt, und darunter RUDOLF WARMBT WALDENBURG SCHL. zu lesen. Von dieser längst wieder untergegangenen Eisenfirma Warmbt aus der kleinen Industrieregion des Waldenburger Berglands hatte ich noch nie etwas gehört. Aber das spielte keine Rolle. Das SCHL. löste eine große Freude in mir aus. Und es stand nicht nur einmal da. Im näheren Umkreis schon fand ich, jetzt mit geschärftem Blick, mehrere Hydrantendeckel aus SCHL. Ich hätte nicht genau sagen können warum, aber dieses WALDENBURG SCHL. erfüllte mich mit einer so großen Befriedigung, dass ich dem Theologen aus Kreisau einen Dankesgruß in alle vier Himmelrichtungen blies, am stärksten aber in Richtung Waldenburg.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 18. November 2010

Schlesische Antike in Berlin

Wie ein Detektiv stürzte ich mich in die städtische Wirklichkeit mit ihren Steinen, Eisenträgern und Gebäuden hinein. Ebenso durchstöberte ich wichtige kulturelle Zeugnisse der Stadt. Ich fühlte mich wie ein Archäologe, der die abgesunkene schlesische Antike in Berlin zu rekonstruieren versucht. Das Thema war ergiebig, ist ergiebig und wird immer ergiebiger. Aber ich möchte das Buch nicht vorwegnehmen, sondern statt dessen an dieser Stelle auf ein paar aussagekräftige Splitter hinweisen, die aus Platzgründen im Buch nicht aufgenommen werden konnten. Zum Buch nur so viel: es sind große Namen, berühmte Zeugnisse aus Kunst, Literatur, Geistes- und Industriegeschichte, die mit dem schlesischen Einfluss auf Berlin verknüpft sind. Da sind Carl Gotthard Langhans, der Erbauer des Brandenburger Tors, und Adolph Menzel, Gerhart Hauptmann und Willibald Alexis, Ferdinand Lassalle und August Borsig, Ludwig Meidner und Arnold Zweig, um nur einige Schlesier zu nennen, die Berlin maßgeblich beeinflusst haben. Sie haben das Stadtbild geprägt (und prägen es bis heute), sie haben maßgeblichen Anteil an der mythisierenden Verehrung Friedrichs des Großen, sie haben den Witz für die altberliner Posse aus Schlesien mitgebracht, wie auch den sozialreformerischen Impetus und den Hang zur seelentiefen Mystik. All das wird im Buch »Jeder zweite Berliner« ausführlich hergeleitet und beschrieben.

Hier nun bleiben einzelne Fundstücke zu beleuchten, die immer im Zusammenhang der schlesischen Einflüsse auf die Stadt Berlin stehen.

Firmenstempel »Beuchelt«
an der Friedrichstraße
Bahnhof Friedrichstraße, oberes S-Bahngleis in Richtung Westen. Sehr oft habe ich dort gestanden und auf die S-Bahn Richtung Charlottenburg, Richtung Wannsee gewartet, vor der Wende, als die S-Bahn noch im 20-Minuten-Takt fuhr, hier endete und der Blick auf die östlichen Nachbargleise eines fremden Systems mit grauen Metallplatten versperrt war, und nach der Wende. Lange habe ich dort gestanden und gewartet, noch länger bei Bauarbeiten und Pendelverkehr, weniger lang im neuen Zwei-Oder-Drei-Minuten-Takt nach der Wende. Immer ging mein Blick hierhin und dorthin, gelangweilt oder in Eile, glitt über die Gesichter der Reisenden, auf die Baustellen unten, bohrte sich in östliche Richtung, um die Ankuft des Zuges versuchsweise zu beschleunigen. Hunderte Male habe ich dort gestanden und vor mich hin gestarrt und sie nie gesehen - die eisernen Firmenschilder an den Metallstreben der S-Bahn-Konstruktion, obwohl sie sich sogar auf Augenhöhe befinden. Der bekannte Satz, dass man nur das sieht, was man weiß, ist mit niemals deutlicher vor Augen geführt geworden als hier. Andreas Kossert hatte in seinem Buch "Kalte Heimat" auf die Firmenstempel der schlesischen Firma Beuchelt am Bahnhof Friedrichstraße hingewiesen, und so ging ich sie suchen. Ich machte mich auf eine langwierige Detektivarbeit gefasst, vermutete diese Schilder an den verborgensten und geheimsten Stellen des labyrinthischen Bahnhofs. Wie überrascht war ich, als genau an den Stellen, an denen ich so oft gestanden und gewartet hatte, sich mir der Blick plötzlich entschleierte. Da stand es: »Beuchelt u. Co. 1923 Grünberg - Schlesien«. Und es stand dort mehrfach, im Wechsel mit den Firmenstempeln eines Eisenunternehmens aus Stettin. Es war, als hätte sich ein unsichtbares Lid von meinen Augen gehoben und ich erst richtig zu sehen begonnen.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 8. November 2010

Nesthäkchen zieht von Schlesien nach Bayern

Ury, Else: Nesthäkchen und ihre Puppen,
Schutzumschlag von Franz Kuderna
der Ausgabe von 1913
Foto: © de.wikipedia.org
Aber nicht nur in den heutigen Zeiten politischer Korrektheit und vorauseilenden Gehorsams werden Hinweise auf den deutschen Osten aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland eliminiert, sondern dies geschah bereits in den fünfziger Jahren. Ein sprechendes Beispiel ist dabei die populäre Nesthäkchen-Reihe von Else Ury. Hier zeigt sich der allgemeine Drang nach dem Zweiten Weltkrieg, die unliebsamen Ostbezüge, die der neuen Westorientierung nur hinderlich gewesen wären, hinter sich lassen zu können. Spielen die ersten, in den zehner und zwanziger Jahren verfassten Bände in Berlin, aber auch bei bäuerlichen Verwandten auf Gut Arnsdorf in Schlesien, so sind diese Verwandten in der Neuauflage aus den fünfziger Jahren mit einem Mal angestammte Niederbayern.

Nesthäkchens Freundin, die in der Originalausgabe aus Breslau stammt, stammt nach 1945 aus München (Bd. 3, Nesthäkchen im Kinderheim). Besonders aufschlussreich ist Band 5, Nesthäkchens Backfischzeit: im Original verbringt Nesthäkchen ihre Sommerferien wieder im schlesischen Arnsdorf. Wegen der polnischen Aufstände in Oberschlesien 1919/20 muss sie übereilt in Richtung Berlin abreisen, bleibt aber aufgrund eines Eisenbahnerstreiks im schlesischen Sagan liegen, wo sie sich alleine durchschlagen muss. Diese historische Dimension wird nach 1945 getilgt: dort ist Nesthäkchen bei ihren niederbayrischen Verwandten zu Gast (bei denen seltsamerweise - es spielt ja immer noch 1919/20 - ein schlesisch sprechender Knecht auftaucht, der vermutlich bei der Neubearbeitung übersehen wurde), reist nach Berlin ab und bleibt wegen eines allgemeinen Generalstreiks in Nürnberg liegen. Auch in Band 9, Nesthäkchen und ihre Enkel, stammt im Original ein verwaistes Mädchen in Südamerika von schlesischen Auswanderern ab, die in den fünfziger Jahren zu Westfalen mutiert sind. Lediglich in Band 2, Nesthäkchens erstes Schuljahr, wird nach 1945 das Ferienziel, das schlesische Riesengebirge, nicht geändert - Hinweis vielleicht auf die übermächtige Bekanntheit dieses Gebirges mit dem Hauptgipfel der Schneekoppe, das, anders als Sagan beispielsweise, nicht mit Amnesie belegt werden konnte und sollte.
Firmenlogo der Schneekoppe
von 1965 bis 1978
Foto: © www.schneekoppe.de
An dieser Stelle ist auch der Firmenname von Diabetikerprodukten, Schneekoppe von Interesse: tatsächlich auf der Sammlung von Heilpflanzen im Riesengebirge der zwanziger Jahre beruhend, wählte die nach Westen vertriebene Heilkräuterkundigenfamilie bewusst den Namen Schneekoppe als Firmenemblem, um auf den Ursprung ihrer Tätigkeit und gleichzeitig auf ihre verlorene Heimat hinzuweisen.

Aber das sind Ausnahmen. In den meisten Fällen wurden die erinnernden Hinweise an die Ostgebiete verunmöglicht. Für die zweite Generation der Vertriebenen führte das zu einem starken Gefühl der Unwirklichkeit all ihrer mythologischen Stoffe, die nun keinerlei Realitätsbezug mehr hatten. Bei den heute Vierzig- bis Sechzigjährigen (und bei den Jüngeren ohnehin), die nicht familiär betroffen sind und waren, führte die Auslöschung von Erinnerung zu einer extremen Unkenntnis. Kein Verlust schmerzt sie, weil sie noch nicht einmal von dem Verlorenen etwas wissen. Für diejenigen Polen, die sich mit der deutschen und preußischen Geschichte in den heute polnischen Woiwodschaften Śląsk (Schlesien), Warmia i Mazurskii (Ermland und Masuren), Pomorski (Pommern) beschäftigen, ist diese Ignoranz vollkommen unverständlich, ja, sie sind jedes Mal zutiefst schockiert und verunsichert, wenn ihnen etliche Deutsche, durchaus auch Intellektuelle, mit Unkenntnis und Desinteresse begegnen. Wie klagte neulich ein polnischer Kunsthistoriker aus Breslau verzweifelt? Die Deutschen, auch Kollegen, wüssten nichts, so, als begänne östlich der Oder eine gelbe Wüste, als befände sich dort nichts mehr oder höchstens, nach Taiga und Tundra, das Eismeer in ewigem Winter.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 4. November 2010

Amnesien

Kossert, Andreas: Kalte Heimat,
WJ Siedler Verlag 2008
Foto: © buchhandel.de
Nach 1945 wurde Deutschland neu aufgeteilt. Zu dieser Aufteilung gehörte auch ein neuer Blick auf die abgetrennten deutschen Ostgebiete. In der SBZ und in der DDR sollte die Erinnerung an Schlesien, Pommern und Ostpreußen möglichst schnell aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden. In den Westsektoren ging man zunächst nicht ganz so rabiat vor. Vertriebenenorganisationen und -treffen wurden zugelassen, Denk- und Mahnmale in vielen Städten erinnerten an die Ostgebiete, Schulen konnten in Schlesienschule, Versammlungssäle in Pommernsaal umbenannt werden. Es gab den »Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten« als eigene Partei. Ab den siebziger Jahren jedoch ließ diese sowieso schon brüchig gewordene Erinnerungskultur stark nach. Mahnmale wurden wieder abgebaut, und von offiziellen Seiten, von Parteien und Verbänden wurden und werden letzte Erinnerungsreste an den ehemaligen deutschen Osten der Amnesie anheimgegeben. Ein jüngeres Beispiel stellt die Umbennenung der Schlesien-Schule in Berlin-Charlottenburg im Jahr 2004 dar, wie es Andreas Kossert in seinem Buch Kalte Heimat beschreibt: argumentierten CDU und FDP, dass »Schlesien für einen Teil deutscher und europäischer Geschichte stehe, für den sich niemand zu schämen habe«, so konterte die SPD, »der Name Schlesien könne zu Missverständnissen nicht nur bei unseren polnischen Nachbarn führen [...], die Schule müsse sich von allen restaurativen Interessen distanzieren.« Schlug die CDU der Schulleitung vor, Kontakt zu einer polnischen Schule aufzunehmen, so begründete der Schulleiter schließlich die Entscheidung für die Umbenennung damit, dass »im Zuge der deutschen Wiedervereinigung jegliche Ansprüche auf die ehemaligen Ostgebiete ad acta gelegt worden seien« und: »Keiner unserer Schüler hat einen Bezug zu Schlesien« - »eine Aussage«, so Kossert, »die einer gründlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten würde.« (Kossert, Kalte Heimat, München 2008, S. 191 f.)

Ebenso sollte auf Antrag von Grünen und SPD der Breslauer Platz in Köln zu Beginn der neunziger Jahre in Willy-Brandt-Platz umbenannt werden. Jedoch blieb der Name Breslauer Platz aufgrund von Protesten aus der Stadtbevölkerung, einer Mischung aus Ur-Kölnern und Schlesiern, erhalten.

Es ist wohltuend zu beobachten, wie entspannt polnische Studenten mit den deutschen Namen aus Schlesien umgehen können. So freute sich eine Gruppe polnischer Germanistikstudenten, die vom Haus Schlesien in Königswinter zu einer Tagung eingeladen waren, über die Bezeichnung der Zimmer nach deutschen Städtenamen aus Schlesien. Sie waren sehr zufrieden mit den Zimmernamen Glogau und Bunzlau in Haus Breslau, mit den Zimmern Ratibor und Bolkenhain in Haus Oder, mit Neurode und Bad Reinerz in Haus Grafschaft Glatz. Da sie aber aus Wrocław kamen, hätten sie natürlich alle am liebsten das Zimmer Breslau im Haus Riesengebirge bewohnt.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Heimatlos

Elliger, Katharina:
Und tief in der Seele das Ferne,
Rowohlt Taschenbuch Verlag 2004
Foto: © buchhandel.de
Katharina Elliger, Studienrätin und Verfasserin des Buches Und tief in der Seele das Ferne (2004), beschreibt ihre Erinnerungen an Flucht und Vertreibung aus Niederschlesien als vierzehnjähriges Mädchen. Ihrem Buch stellt sie als Motto ein Zitat von Fritz Stern voran: »Und doch, vor einigen Jahren in einem deutschen Interview gefragt: ›Was fällt Ihnen bei dem Wort Heimat ein‹, gab ich die mich völlig überraschende sofortige Antwort: ›Heimatlos.‹«

Trotz ihrer beruflichen und familiären Integration in der neuen westdeutschen Heimat kommt also diese als Jugendliche vertriebene Frau im Alter zu der Erkenntnis, dass sie eigentlich heimatlos ist. Dies ist ein Grundgefühl, das sicherlich bei vielen Vertriebenen vorherrscht, wenngleich die Heimatlosigkeit vermutlich oft mehr dunkel und unangenehm geahnt als reflektiert wurde und wird. Sie wurde und wird als ein untergründiges Missbehagen, doch nie ganz dazuzugehören, zwar gespürt, aber kaum ausgesprochen, betrauert und dann, im besten Falle, zu einer neuen, produktiven Identität gemacht. Oft aber wird das Gefühl der Heimatlosigkeit peinlich und demütig verschleiert. Nur wenige können sich dieser Erkenntnis stellen, nicht nur heimatlos zu sein, sondern – bei allen rastlosen Integrationsversuchen – sogar heimatlos geblieben zu sein, oder das Heimatlosigkeitsgefühl auf die eigenen Kinder übertragen zu haben. Viele Vertriebene konnten auch in den Vertriebenenverbänden keine neue Heimat finden, da diese ihnen als künstlich (wie sagte eine Vertriebene? »Solche Trachten habe ich in Schlesien nie gesehen!«) oder als rückwärtsgewandt erschienen.


Heimatlos oder Heimat wie ein Flickenteppich, ein bisschen die eigene Kindheit im Westen, ein bisschen die Heimat der Eltern, ein bisschen der Ort, an dem man jetzt lebt, bezeichnenderweise ist es Berlin – so beschreibt es ein Vetriebener der zweiten Generation, ein Adliger, dessen Familie alle Besitzungen in Schlesien verloren hat und dessen Eltern nie so ganz angekommen sind im Westen. Er selbst leidet sehr unter dem unbestimmten Heimatgefühl, das auf den Heimatverlust folgt, und ist davon so sehr geprägt, dass sich sein Leben ebenso unbestimmt und schwankend gestaltet. Er sagt, dass er sich selbst gerne provokativ, aber durchaus nicht nur ironisch, als Schlesier bezeichnet. Sein Bruder, der beruflich und familiär besser Tritt gefasst hat und sich vordergründig nicht so sehr für die schlesischen Wurzeln interessiert, lässt plötzlich verlauten, er wolle später einmal in Schlesien, in ihrem Herkunftsort, bestattet werden. So, als wisse er, wohin er am Ende gehöre, so, als könne er schließlich nach Hause kommen.

Fortsetzung am kommenden Montag.