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Donnerstag, 21. Oktober 2010

Varianten

Im letzten Blogeintrag wurden bereits zwei Beispiele genannt, wie sich die zweite Generation der deutschen Vertriebenen gegenüber der alten und der neuen Heimat der Eltern oder eines Elternteils verhält. Es folgen weitere.

Beispiel drei: Ein Schriftsteller, noch in Schlesien geboren, kam mit einem Jahr in die DDR bzw. die SBZ, wo er als Kind durchaus die Ausgrenzung der Vertriebenen erlebte. Nach seiner Identität befragt, bezeichnet er sich als Schlesier qua Geburtsort, nimmt dann wieder Distanz dazu ein, um sich aber plötzlich für die unfreiwillig komische schlesische Dichterin Friderike Kempner - "das kann nur ein Schlesier verstehen" - und für den niederschlesischen Komiker Lommel und seinen Sender Runxendorf zu begeistern. Er kennt und schätzt also den niederschlesischen Dialekt, um sich im gleichen Atemzug wieder davon zu distanzieren: es sei schließlich ganz normal, dass jeden Tag so und so viele Sprachen aussterben, da sei das Verschwinden des niederschlesischen Dialekts auch nichts besonderes. Bezüglich seines Heimatgefühls bleibt er schwankend, hin- und hergezogen zwischen Nähe und Ferne, Anziehung und Abstoßung.

Beispiel vier: Eine Lehrerin, um 1950 in Niedersachsen geboren und dort auch beruflich und familiär verwurzelt, bezeichnet Schlesien als ihre Heimat, da ihre Mutter von dort stammt. Sie selbst lässt sich dem Grünenmilieu zurechnen. Da die ganze Familie mit Kindern und Enkeln seit vielen Jahren jedes Jahr auf familiären Spuren eine Reise ins Riesengebirge unternimmt, ist ihr diese Landschaft, dieser Landstrich sehr vertraut geworden, und sie hält sie, obwohl sie kein polnisch versteht, für ihre wahre Heimat. Jedenfalls fühlt sie sich dort viel heimatlicher verwurzelt als in ihrem eigenen Geburtsort in Niedersachsen.

Beispiel fünf: ein Lyriker und Übersetzer, geboren um 1960 in der DDR, der von Vertriebenen aus Schlesien und Danzig abstammt. Durch seinen schlesischen Großvater, der in der DDR im privaten Rahmen schlesischen Dialekt sprach, über die neue Zeit klagte und sich nicht anpasste, erfuhr er viel über Schlesien. Zu Hause wurde schlesisch gekocht und gelästert. Seine Mutter allerdings überassimilierte sich im neuen Gesellschaftssystem. In den achtziger Jahren reiste er nach West-Berlin aus. Auf die Frage, was für ihn Heimat sei, sagt er wie aus der Pistole geschossen: "Die Motetten von Bach und die deutsche Sprache". Keine Stadt, keine Region kommt für ihn als Heimat in Frage, im Zweifelsfall höchstens Berlin.

Beispiel sechs: Eine Funktionärin des BDV (Bund der Vertriebenen), 1945 noch in Westpreußen geboren, bis die Familie kurz darauf vertrieben wurde. In Westdeutschland wächst sie mit einem Gefühl der Heimat- und Wurzellosigkeit auf. Ihre eigene Kindheit kommt ihr nicht so bedeutsam vor wie die westpreußische Heimat, die in den Erzählungen ihrer Eltern entsteht. Zwischenzeitlich wandert sie nach Amerika aus, kehrt aber nach Deutschland zurück. Heute empfindet sie die westpreußische Landschaft, die, wie sie selbst erzählt, von ihren Vorfahren in zig Generationen kultiviert wurde, wohlgemerkt nur die Landschaft, als ihre Heimat. Die neuen Bewohner allerdings bleiben ihr fremd.

Fortsetzung am kommenden Montag.