Montag, 27. September 2010

Polnische Archäologie: die deutsche Antike

Das ist in Polen ganz anders. Zwar war es während der Zeit des Sozialismus in Polen inopportun, ja verboten, öffentlich über die verlorenen polnischen Ostgebiete, also Städte wie Lemberg und Wilna, zu sprechen und vor allem ihren Verlust zu beklagen. Aber privat, in den Familien und unterschwelligen Gruppen, waren die Geschichten über den verlorenen polnischen Osten hoch im Kurs, und nicht nur die Geschichten, auch der Dialekt, das Essen, die Lieder, das von dort Mitgebrachte. Das Wachhalten der Erinnerung hatte etwas von Subversion, von nationalem Widerstand gegen ein aufoktroyiertes Regime, es war eine wirkungsmächtige Mischung aus Heroismus und melancholischer Empfindsamkeit.

Krajewski, Marek: Tod in Breslau,
dtv Verlag 2009
Foto: © buchhandel.de
All das beeinflusste auch Marek Krajewski. 1966 in Breslau geboren, zählt er zur zweiten Generation der Vertriebenen, da seine Mutter, wie viele neue Bewohner Breslaus, aus Lemberg stammte. Krajewski ist klassischer Altertumsforscher, Altphilologe und gleichzeitig populärer Krimiautor. In den sechziger, siebziger Jahren im polnischen Breslau aufgewachsen konnte er vor Ort die nationalpolnischen Bemühungen beobachten, den urslawischen Urgrund Breslau durch archäologische Ausgrabungen und Neubewertungen auszuloten, um den neuen Herrschaftsanspruch über die »wiedergewonnenen Gebiete« nach 1945 zu untermauern. Möglicherweise hat ihn dies dazu angeregt, sich mit der noch älteren Archäologie, der klassischen Antike, beruflich zu befassen. Aber diese Beschäftigung führte unter Umständen zu weit weg von einer antiken Schicht Breslaus, die zwar schon entfernt genug war, also einen gewissen Mumifizierungs- und Petrifizierungsprozess durchlaufen hatte, aber doch noch anders unter den Nägeln brannte als die römischen Überreste oder das piastische Erbe: die archäologische Schicht des Deutschen in Breslau nämlich. Marek Krajewski rekonstruiert in seinen sehr populären Breslau-Krimis der letzten zehn Jahre das deutsche Breslau der zehner, zwanziger, dreißiger Jahre bis 1945. Er rekonstruiert es geradezu wissenschaftlich und quellenkundlich exakt anhand von alten Stadt- und Fahrplänen, sogar anhand von genau datierten Speisekarten bestimmter Lokale, Speisekarten, die dann in den Romanen an dem exakten Datum mit den exakten Gerichten eine Auferstehung feiern. Er entwirft die Figur eines nicht unsympathischen deutschen Kommissars, Eberhard Mock, ein Schlesier aus Waldenburg, der im Breslauer Rotlichtmilieu ermittelt. Was passiert hier? Krajewskis Familie war nach 1945 in eine mehr oder weniger von ihren angestammten Bewohnern entvölkerte Stadt gekommen, in eine fremde Stadt, in eine Stadt, deren Überlieferungen und Traditionen nicht die ihren waren. Dem Sohn genügten die angebotenen Identifikationsmöglichkeiten á la wiedergewonnene Gebiete, urslawischer Boden, piastisches Erbe, polnische Muttererde, Breslau als neues Lemberg irgendwann nicht mehr - wie vielen aufgeschlossenen Vertretern seiner Generation. Er wollte sich nicht mit der amputierten Erinnerung, mit der Gedächtnislosigkeit der Stadt Wrocław abspeisen lassen. Er merkte, dass es sich in diesen Regionen komplizierter mit der Identität verhält, dass der genius loci Breslaus eine größere Komplexität bereithält, die die deutsche Vergangenheit nicht außer Acht lassen darf. Und so begann er akribisch, genau und mit viel überschäumender Phantasie sich die jüngere deutsche Zeit zu erobern, sie zu rekonstruieren und sie gleichzeitig neu zu erfinden, um schließlich ein Konstrukt von Heimatgefühl dem neuen Breslau gegenüber zu entwickeln. Und dieses Heimatgefühl hat sich die Schicht der deutschen Antike sozusagen einverleibt, sich ihrer vergewissert, sie sich anverwandelt. Nur so entsteht ein komplexes Panorama der Stadt. Nur so entsteht eine runde Indentität ihrer Bewohner. Nun können sie ohne ängstliche Klitterung und mit größerer Offenheit zu neuen Niederschlesiern, zu neuen Breslauern werden.

Krajewski, Marek:
Gespenster in Breslau,
dtv Verlag 2009
Foto: © buchhandel.de
Krajewski, Marek:
Der Kalenderblattmörder,
dtv Verlag 2008
Foto: © buchhandel.de
Krajewski, Marek:
Pest in Breslau,
dtv Verlag 2009
Foto: © buchhandel.de

Donnerstag, 23. September 2010

Deutsche Fluchten

Vertriebene – das Wort allein löst immer noch bei vielen Menschen in Deutschland Aversionen aus, sowohl in der ehemaligen DDR als auch im Westen. Immer noch wird es amorph mit Rückwärtsgewandtheit, Ewiggestrigkeit, Revanchismus, oder noch amorpher mit irgendetwas gar nicht genau Bekanntem, aber enorm Verstaubtem in Verbindung gebracht. Die Querelen um das Sichtbare Zeichen, um das Zentrum gegen Vertreibungen zeugen davon. Und gar noch zweite Generation von Vertriebenen – das klingt ja nachgerade so, als sollte es nie aufhören! Am besten gar dritte und vierte Generation, um künstlich etwas wachzuhalten, das längst erledigt ist oder sein sollte. Gras muss über die unliebsame Sache wachsen, wachsen und weiterwachsen. Es ist doch längst gewachsen, meinen viele.
In Deutschland ist man sehr offen. Das Interesse an anderen Kulturkreisen, anderen Gewohnheiten und Gebräuchen, anderen Speisen, Sprachen und Religionen, sogar an anderen Kriegen und Vertreibungen ist ungewöhnlich groß. Nicht umsonst gehören die Deutschen immer noch zu den Spitzenreitern des weltweiten Reiseverkehrs. Sie sind Meister der Übersprungshandlungen. Sie können sich kopfüber auf etwas Fremdes einlassen und vor lauter Enthusiasmus das Eigene vergessen. Und nicht erst seit den dunkelsten Verwerfungen der jüngeren deutschen Geschichte. Schon vorher, im 19. Jahrhundert beispielsweise, konnten sich die deutschen Einwanderer in Amerika besonders schnell anpassen, ihre Eigenheiten hinter sich lassen, sie konnten sich, also ihre Ecken und Kanten, ihre Speisen und Dialekte, ihre Religionen und Gewohnheiten ins große Ganze einschmelzen. Das kann eine besondere Fähigkeit, ein Gabe sein. Es kann aber auch etwas auf der Strecke bleiben.

Das Eigene – was ist das? Bevor man an die Nationalgeschichte oder an regionale Prägungen denkt, ist es die Geschichte der Eltern oder der Großeltern, die zum Eigenen werden kann, denn das ist ja die erste Zeitgeschichte, von der ein junger Mensch erfährt, die ihn vielleicht zu fesseln vermag, die nie ganz privat ist, sondern immer auch kollektive Erfahrungen transportiert. Mancher inkorporiert die Geschichte seiner Eltern als sein Eignes, mancher scheidet sie wieder aus. Das ist auch abhängig von den Konjunkturen der jeweiligen Zeitstimmung, von den Haussen und Baissen, die derlei Geschichten als wertvoll nach oben oder als wertlos nach unten steigen lassen. Was zählt, lässt sich leichter aufnehmen, was nicht zählt, lässt sich leichter ausscheiden, abspalten, mit einem Bann belegen. In der Bundesrepublik der siebziger, achtziger Jahre standen die Aktien schlecht für die Geschichten der Eltern. Das hatte den Grund darin, dass die Bundesrepublik sich in dieser Zeit mit der eigenen Schuld, mit der Shoah auseinanderzusetzen begann. Daran gemessen waren die Geschichten der Eltern und Großeltern klein und tendenziell unter den Generalverdacht der nationalsozialistischen Verstrickung gestellt. Im Zweifelsfall waren sie korrumpiert.
Immer wieder berichten Israelis und Juden aus anderen Ländern von dem Drang vieler aufgeschlossener junger Deutscher zu dieser Zeit, durch Übersprungshandlungen die besseren Juden sein zu wollen, sich mit den Opfern, nicht mit den Tätern zu identifizieren, was die echten Juden verwunderte. Denn so leicht lässt sich der eigenen Geschichte nicht entfliehen, der eigenen Familie nicht entkommen.