Dienstag, 19. Oktober 2010

Amputierte Erinnerung?

Wie verhält es sich nun mit der zweiten Generation der deutschen Vertriebenen? Auch hier sind die Möglichkeiten, sich gegenüber der alten und der neuen Heimat der Eltern oder eines Elternteils zu verhalten, sehr unterschiedlich.

Beispiel eins: Ein Jurist mit einem Elternteil aus Schlesien und ein Ingenieur, dessen Eltern beide aus Schlesien stammten, beide um 1960 im Rheinland geboren, reagieren durch Überassimilation auf ihre neuen Wohnorte, der eine weiterhin im Rheinland, der andere im Badischen. Ihr Verhalten zeichnet sich durch Übersprungshandlungen aus. So übernehmen sie den lokalen Dialekt, den sie von ihren Eltern nie gehört haben, und die Lebensgewohnheiten der Region. Sie treten in Vereine ein und mutieren zum Superkölner bzw. zum Superbaden. Sie haben keinerlei Bezug zur Herkunft der Eltern oder Elternteile. Schon die östliche Lage Berlins wirkt auf sie beunruhigend, und alles, was östlich von Berlin liegt, geradezu bedrohlich. Sie bemühen sich stark um eine für sie neue, westlich ausgerichtete landmannschaftliche Prägung, da ja für die meisten Deutschen der Bezug zur Region und das Gefühl, dazuzugehören sehr wichtig ist. Sie wollen auch von "do" sein, sich heimatlich fühlen, so, als wären sie schon ganz lange da.

Heimat - ist dieser Begriff überhaupt zulässig? Ist er nicht zu antiquiert, zu verstaubt, zu ungut, zu belastet? Sollte man gerade heutzutage - Globalisierung! - nicht nüchterner über diese Dinge, die Herkunft, die Zugehörigkeiten sprechen? Es scheint aber doch so, dass die meisten Menschen traditioneller, beharrender, bewahrender veranlagt sind. Uwe Johnson spricht in seinen Jahrestagen vom "Weltdorf New York". Und schon im Faust weiß Mephisto: "Es ist doch lange hergebracht, daß in der großen Welt man kleine Welten macht." Anscheinend sehnen sich die Menschen neben ihrer ganzen weltweiten Offenheit auch immer wieder nach überschaubareren Einheiten und Gebilden, nach Eintauchen in die warme Badewanne des Bekannten. Interessant ist es zu beobachten, dass in den letzten Jahren immer wieder Romane auf den Buchmarkt kommen, deren Untertitel "Heimatroman" lauten (Gert Jonke, Jens Sparschuh, Andreas Maier u. a.), die selbst in ihrer ironischen Gebrochenheit und Reflektiertheit auf ein Heimatgefühl verweisen. Die kühlsten, nüchternsten und analytischsten Menschen werden bei der Frage nach ihrer Heimat weich. Die wenigsten weisen eine solche Frage schroff zurück.

Beispiel zwei: Ein Liedermacher mit einem Elterteil aus Schlesien, um 1950 in Berlin geboren und aufgewachsen. Er zählt sich dem linksliberalen Milieu in Folge der Studentenbewegung zu. Die Vertriebenenthematik beäugt er skeptisch bis misstrauisch. Seit einiger Zeit begeistert er sich für Osteuropa. Er reist nach Polen und in die Ukraine. Als er in einem Huzulenhaus in den Bergen sitzt und dort die Trachten der westukrainischen Huzulen, der Bewohner der Karpaten, betrachtet, erinnert er sich plötzlich beim Bloggen unwillkürlich an die Trachten seiner schlesischen Mutter und an ihre Trauer, dass in Bayern niemand mehr ihre schlesischen Trachten sehen, geschweige denn tragen wollte, und dass die Nachfahren die schlesischen Bräuche nicht pflegten. Erst in der unverfänglich scheinenden Fremde ist es ihm möglich, etwas Unterdrücktes, etwas Abgewehrtes zuzulassen.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Abwehrreflexe

Vielleicht rührte die Abwehr der angestammten Bevölkerung gegenüber den Vertriebenen von einer Art Geschichtshygiene nach dem Zweiten Weltkrieg her. Diese zeigte sich auch in der Abrisstätigkeit, die nach dem Krieg in den deutschen Städten herrschte und die bis heute wirksam ist. Angeblich wurde Platz gebraucht für Fußgängerzonen, Autobahnen, Parkhäuser oder fortschrittliche sozialistische Architekturen und Magistralen. Aus dem Abstand betrachtet will es jedoch so scheinen, dass geschichtlicher Ballast abgeworfen werden sollte, um frei und ungebunden in eine moderne Zukunft entfliehen zu können. Sehr schnell waren die Spuren des Krieges in Westdeutschland getilgt und von Neubauten ungeschehen gemacht worden. Jüngste, unangenehme Geschichte vermutete man höchstens - unbewusst kollektiv und amorph - Richtung Osten. Auch daher rührte die große Reserve, das Misstrauen den Vertriebenen gegenüber, diesen Ungebetenen, Sandsackschweren, denn ihnen haftete sozusagen die düstere jüngste deutsche Geschichte noch an, sie waren lebendige Zeugnisse einer großen Schuld, die alle Deutschen hätte angehen müssen, wären sie nicht mit Wiederaufbau und Verdrängung befasst gewesen. Vielfach gab es einen doppelten Abwehrmechanismus. Man verschloss in den fünfziger und sechziger Jahren die Augen vor der deutschen Schuld, an die man sich durch die Fremden aus dem Osten unbewusst erinnert fühlte, und brachte oft wenig Mitleid auf für das Schicksal dieser Menschen, die alles verloren hatten, weil die eigenen Verluste ebenfalls schmerzten und auch weil viele in den Vertriebenen zu Recht Bestrafte sahen. Denn wer so bestraft worden war, musste wohl auch große Schuld auf sich geladen haben. Was ging einen das in München, in Stuttgart, in Hannover, in Köln, in Frankfurt, in Hamburg, in Rostock, in Dresden, in Leipzig und in Berlin an. Anders ausgedrückt: Zu der Ablehnung, die man ohnehin den Fremden aus dem Osten entgegenbrachte, die nun ebenfalls Platz und Nahrung beanspruchten, gesellte sich ein merkwürdiges Konglomerat aus antiöstlichen Ressentiments und verdrängten Schuldgefühlen. Es war bequem, in ihrem Schicksal die gerechte Strafe für besonders große Schuld zu sehen, nämlich für die Kriegsverbrechen und die Vernichtung der Juden, die ja vor allem da hinten im Osten stattgefunden hatte. Den Gestraften konnten man im Nachhinein das eigene schlechte Gewissen guten Gewissens aufladen. Tatsächlich stimmt diese Schuldkonstruktion nicht mit der historischen Realität überein, denn die neuen Grenzen, wie sie von den Alliierten in Teheran, Jalta und Potsdam erwogen worden waren und beschlossen wurden, waren Resultate machtpolitischer Erwägungen und nicht etwa moralischer Betroffenheit. Nicht Auschwitz stand zur Debatte, sondern Deutschland als kriegsverbrecherischer Kriegsverlierer.

Um es ganz einfach zu sagen: die Vertriebenen haben den gleichen Anteil an der deutschen Schuld wie alle anderen Deutschen. Aber ihr Anteil ist nicht, wie gerne unterstellt wird, größer als der der Nicht-Vertriebenen.

Diese Abwehrreflexe sind noch 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wirksam. Anders lassen sich die aufgepeitschten Debatten um das Sichtbare Zeichen - Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung nicht erklären. Die Emotionen, die auf allen Seiten damit verbunden sind, zeigen deutlich, dass es sich hier um etwas nach wie vor Unerledigtes handelt, dass dieses Kapitel immer noch nicht abgeschlossen ist.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 11. Oktober 2010

Rückwärtsgewandt oder mitgemacht

Ein »Wohl-oder-übel-Gefühl«, das »Zusammenfügen und halbwegs friedliche Zusammenleben von Heterogenem« – mehr, so Robert Traba am Ende des letzten Eintrags nüchtern, könne man nach den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts vom Begriff »Heimat« nicht verlangen.

Wie ist es umgekehrt mit den deutschen Vertriebenen? Hier verhält es sich nun nicht zwingend spiegelverkehrt zu den polnischen Erfahrungen, wie sonst immer für die Westverschiebung mit der doppelten Vertreibungsbewegung - die Ostdeutschen kamen nach Westen, die Ostpolen nach Schlesien, Pommern und Ostpreußen - angenommen wird. Bei der Frage nach der heimatlichen Verwurzelung der deutschen und polnischen Vertriebenen, auch der zweiten Generation, hapert es mit den strukturellen Ähnlichkeiten. Denn die deutschen Vertriebenen kamen ja nicht in leere und fremde Gebiete, sondern in kulturell nicht ganz so fremde und vor allem besiedelte Gebiete, in denen die Angestammten ihre Rechte auf Angestammtsein deutlich bis sehr deutlich bekundeten. Wie groß die Abwehr, die Ablehnung der Vertriebenen durch die ansässige Bevölkerung war, beschreibt Andreas Kossert eindrucksvoll in seinem Buch Kalte Heimat.

Kossert, Andreas: Kalte Heimat,
WJ Siedler Verlag 2008
Foto: © buchhandel.de
Schon die erste Generation der Vertriebenen reagierte sehr unterschiedlich auf den erzwungenen Heimatverlust. Vermutlich gab es so viele, individuell unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten auf die Vertreibung, wie es Vertriebene gab. Und doch lassen sich auch immer wieder strukturelle Ähnlichkeiten in bestimmten Gruppen erkennen. So lehnten häufig ganz alte Leute und Bauern den neuen, zufälligen Ort ab, an den man sich mit einem Mal ungewollt wiederfand, ja, sie verweigerten sich ihm gegenüber geradezu. Gerade Bauern oder auch Gutsbesitzer, die Land besessen hatten, verharrten verständlicherweise gern in der Vorstellung der verlorenen Heimat, wo sie etwas hatten und waren, während im Westen das Land seit altersher unter den Einheimischen aufgeteilt war. Das stellte sich kurzzeitig in der DDR durch Bodenreform und Neusiedlerbewegung anders da, dort bekamen auch die Vertriebenen Land zugesprochen, verloren es jedoch durch die Kollektivierung der Landwirtschaft wieder. Diese nicht anpassungswillige Gruppe beharrte auf ihrer Mundart, ihren traditionellen Speisen, ihrer religiösen Ausprägung und auf den alten Geschichten aus der verlorenen Heimat, die so oft erzählt wurden, dass sie sich langsam zu mythischen Stoffen zu verdichten begannen. Sie wussten, wo ihre Heimat war. Diese aber war verloren. Das hatte Zorn, Trauer und Melancholie zur Folge.

Eine solche Gruppe der Vertriebenen gab es übrigens auch in Polen, beschrieben vom polnischen Autor Adam Zagajewski in seinem Essay Zwei Städte. Darin entwirft Zagajewski ein Panoptikum älterer, aus Lemberg vertriebener Polen, die sich nach 1945 ungewollt im ehemals deutschen Gleiwitz wiederfanden - miniaturenhafte Kabinettstückchen der Integrationsverweigerung.

Eine entgegengesetzte Möglichkeit der deutschen Vertriebenen, auf die neuen Verhältnisse zu reagieren, bestand in Überassimilation. Im extremsten Fall wurde die Herkunft verleugnet, da mit ihr in beiden Teilen Deutschlands kein Staat zu machen war, im etwas weniger extremen Fall wurde sie zumindestens nach außen verschwiegen (und die mythischen Stoffe nur nach innen, innerhalb der Familie weitergegeben). Auch das ist verständlich. Denn die Vertriebenen wollten nicht auffallen, und wenn, dann nur durch Tüchtigkeit und moralische Integrität. Sie waren um ein besonders gutes Deutsch bemüht, um den Vorwurf, die Leute aus dem Osten seien ja sowieso alle "Polacken", gar nicht erst aufkommen zu lassen. Sie bemühten sich, ihre Kinder vorbildlich zu erziehen, um nicht anzuecken. Sie suchten nach den Werten, die in den jeweiligen Gesellschaftsystemen etwas zählten. Das konnte im Westen ein durch unglaublichen Fleiß errungener guter Beruf sein, in dem man durch besondere Tüchtigkeit auffiel, und der Bau eines Hauses durch äußerste Sparsamkeit und Versagungen. In der DDR konnte es die SED-Mitgliedschaft sein und damit verbunden ideologische Überkorrektheit. Ob Bundesrepublik oder DDR: man war genug gedemütigt worden, hatte den Besitz-, den Status- und, was am schwersten wog, den Heimatverlust erlitten, nun wollte man in der neuen Heimat endlich mitmachen, einen Platz besetzen, nach vorne schauen - schon für seine Kinder.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Montag, 4. Oktober 2010

Neue Heimat

Was fragte neulich ein junger polnischer Wissenschaftler in Kreisau? Ob in Deutschland der schlesische, also der nieder- und mittelschlesische Dialekt noch viel gesprochen würde? Die Antwort, dass dieser Dialekt so gut wie ausgestorben sei, empfand er als traurig, »denn wir wollen doch wissen, wie die Leute, die früher hier gelebt haben, gesprochen haben.«

Die Breslauer Bürgerschaft als ganze entwickelt immer stärker einen Lokalpatriotismus, der der vergangenen Zeiten nicht nur eingedenk ist, sondern sie sogar als das Eigene einzugemeinden versteht. So waren neulich im Bremer Kunsthandel sehr wertvolle schlesische Silberschmiedearbeiten aus dem 17. Jahrhundert aufgetaucht. Der Breslauer Bürgermeister wollte sie erwerben, es fehlte ihm jedoch an Geld. Gerade die Hälfte konnte er zur Verfügung stellen. Dann startete er zusammen mit der Gazeta Wyborcza einen Aufruf an die Breslauer Bürgerschaft, an Firmen, Unternehmen, Einrichtungen und Privatpersonen, für den Erwerb des schlesischen Kunsthandwerks Gelder aufzubringen und zu sammeln. Tatsächlich bekamen sie die 1, 3 Millionen Euro zusammen, um die Kunstgegenstände erwerben zu können, um sie nun stolz in ihrem Stadtmuseum zu präsentieren, »denn sie gehören doch in unser Breslau.«

Gedenktafel für Max Herrmann-Neiße
am Berliner Kurfürstendamm
Foto: de.wikipedia.org
Junge Studenten interessieren sich für den so lange ausgesparten Hohlraum der deutschen Geschichte der Stadt und der Region Schlesien, sie unternehmen freiwillig im Sommer Exkursionen zu den Festungsbauten Friedrichs II., empfinden ein Gedicht von Max Herrmann-Neiße (aus dem schlesischen Neiße), »Breslauer Winternacht«, als das schönste Gedicht über Breslau, erobern sich ihre Stadt auf den Spuren Edith Steins, schlüpfen also sozusagen in die Rolle von Deutschen, die in der Vergangenheit herumsuchen, und werden dann auch passenderweise vor der Schule von Edith Stein von aus den Fenstern schauenden Anwohnern als »niemcy, niemcy!«, also als Deutsche tituliert. Sie freuen sich über einen literarisch gar nicht bedeutenden Text aus dem 19. Jahrhundert, der eine Gegend im Norden der Stadt als Verbrechergegend beschreibt, da sie feststellen, dass auch heute dieses Stadtviertel keinen guten Ruf hat. Ihre Freude gilt der Unverwüstlichkeit eines - wenn auch negativen - genius loci, der trotz Vertreibung und Neubesiedlung in der Stadt wirksam sein muss. Und ein polnischer Student, der in Breslau geboren ist und erst ganz normal, also ungebrochen, dort aufwuchs, erzählte, dass ihm im Alter von siebzehn Jahren die Stadt mit ihrer anderen Architektur und Geschichte plötzlich fremd wurde. Es habe erst des Oderhochwassers 1997 bedurft, dass er sich im Kontakt mit den Sandsäcken, den Steinen, dem Wasser, also durch eine Art haptischen Kontakt der Stadt vergewisserte und seither durch die konkrete Rettung der Stadt ein neues Heimatgefühl Breslau gegenüber verspüre. Ob durch die archäologische Rekonstruktion deutsch-antiker Schichten mittels des Kommissars Eberhard Mock, ob durch detektivische Stadtspaziergänge, ob durch den Erwerb schlesischer Kunstgegenstände oder durch den direkten Kontakt mit der städtischen Substanz beim Oderhochwasser - all diese Möglichkeiten dienen dazu, aus der fremden Stadt, der fremden Region eine vertraute Stadt, ein vertrautes Land zu machen, eine heimatliche Verwurzelung ohne Amputation und Amnesie.

Das ist ein emphatischer Begriff von Heimat. Der polnische Historiker und Kulturwissenschaftler Robert Traba hingegen verficht einen viel nüchterneren, wie er sagt moderneren Heimatbegriff. Seine Erfahrung von Heimat, allerdings nicht in Breslau, sondern im Masurischen, sei, dass verschiedene nationale bzw. ethnische Gruppen, die sich durch die Zeitläufte mehr oder weniger unfreiwillig in einer Region einfanden, die zusammengewürfelt sind, es miteinander aushalten müssen. Heimat ist für ihn ein Wohl-oder-übel-Gefühl, es ist das Zusammenfügen und halbwegs friedliche Zusammenleben von Heterogenem, so von Ukrainern, Masuren und Polen an einem Ort. Mehr, so meint Robert Traba nüchtern, kann man nach den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts von Heimat nicht verlangen.

Montag, 27. September 2010

Polnische Archäologie: die deutsche Antike

Das ist in Polen ganz anders. Zwar war es während der Zeit des Sozialismus in Polen inopportun, ja verboten, öffentlich über die verlorenen polnischen Ostgebiete, also Städte wie Lemberg und Wilna, zu sprechen und vor allem ihren Verlust zu beklagen. Aber privat, in den Familien und unterschwelligen Gruppen, waren die Geschichten über den verlorenen polnischen Osten hoch im Kurs, und nicht nur die Geschichten, auch der Dialekt, das Essen, die Lieder, das von dort Mitgebrachte. Das Wachhalten der Erinnerung hatte etwas von Subversion, von nationalem Widerstand gegen ein aufoktroyiertes Regime, es war eine wirkungsmächtige Mischung aus Heroismus und melancholischer Empfindsamkeit.

Krajewski, Marek: Tod in Breslau,
dtv Verlag 2009
Foto: © buchhandel.de
All das beeinflusste auch Marek Krajewski. 1966 in Breslau geboren, zählt er zur zweiten Generation der Vertriebenen, da seine Mutter, wie viele neue Bewohner Breslaus, aus Lemberg stammte. Krajewski ist klassischer Altertumsforscher, Altphilologe und gleichzeitig populärer Krimiautor. In den sechziger, siebziger Jahren im polnischen Breslau aufgewachsen konnte er vor Ort die nationalpolnischen Bemühungen beobachten, den urslawischen Urgrund Breslau durch archäologische Ausgrabungen und Neubewertungen auszuloten, um den neuen Herrschaftsanspruch über die »wiedergewonnenen Gebiete« nach 1945 zu untermauern. Möglicherweise hat ihn dies dazu angeregt, sich mit der noch älteren Archäologie, der klassischen Antike, beruflich zu befassen. Aber diese Beschäftigung führte unter Umständen zu weit weg von einer antiken Schicht Breslaus, die zwar schon entfernt genug war, also einen gewissen Mumifizierungs- und Petrifizierungsprozess durchlaufen hatte, aber doch noch anders unter den Nägeln brannte als die römischen Überreste oder das piastische Erbe: die archäologische Schicht des Deutschen in Breslau nämlich. Marek Krajewski rekonstruiert in seinen sehr populären Breslau-Krimis der letzten zehn Jahre das deutsche Breslau der zehner, zwanziger, dreißiger Jahre bis 1945. Er rekonstruiert es geradezu wissenschaftlich und quellenkundlich exakt anhand von alten Stadt- und Fahrplänen, sogar anhand von genau datierten Speisekarten bestimmter Lokale, Speisekarten, die dann in den Romanen an dem exakten Datum mit den exakten Gerichten eine Auferstehung feiern. Er entwirft die Figur eines nicht unsympathischen deutschen Kommissars, Eberhard Mock, ein Schlesier aus Waldenburg, der im Breslauer Rotlichtmilieu ermittelt. Was passiert hier? Krajewskis Familie war nach 1945 in eine mehr oder weniger von ihren angestammten Bewohnern entvölkerte Stadt gekommen, in eine fremde Stadt, in eine Stadt, deren Überlieferungen und Traditionen nicht die ihren waren. Dem Sohn genügten die angebotenen Identifikationsmöglichkeiten á la wiedergewonnene Gebiete, urslawischer Boden, piastisches Erbe, polnische Muttererde, Breslau als neues Lemberg irgendwann nicht mehr - wie vielen aufgeschlossenen Vertretern seiner Generation. Er wollte sich nicht mit der amputierten Erinnerung, mit der Gedächtnislosigkeit der Stadt Wrocław abspeisen lassen. Er merkte, dass es sich in diesen Regionen komplizierter mit der Identität verhält, dass der genius loci Breslaus eine größere Komplexität bereithält, die die deutsche Vergangenheit nicht außer Acht lassen darf. Und so begann er akribisch, genau und mit viel überschäumender Phantasie sich die jüngere deutsche Zeit zu erobern, sie zu rekonstruieren und sie gleichzeitig neu zu erfinden, um schließlich ein Konstrukt von Heimatgefühl dem neuen Breslau gegenüber zu entwickeln. Und dieses Heimatgefühl hat sich die Schicht der deutschen Antike sozusagen einverleibt, sich ihrer vergewissert, sie sich anverwandelt. Nur so entsteht ein komplexes Panorama der Stadt. Nur so entsteht eine runde Indentität ihrer Bewohner. Nun können sie ohne ängstliche Klitterung und mit größerer Offenheit zu neuen Niederschlesiern, zu neuen Breslauern werden.

Krajewski, Marek:
Gespenster in Breslau,
dtv Verlag 2009
Foto: © buchhandel.de
Krajewski, Marek:
Der Kalenderblattmörder,
dtv Verlag 2008
Foto: © buchhandel.de
Krajewski, Marek:
Pest in Breslau,
dtv Verlag 2009
Foto: © buchhandel.de

Donnerstag, 23. September 2010

Deutsche Fluchten

Vertriebene – das Wort allein löst immer noch bei vielen Menschen in Deutschland Aversionen aus, sowohl in der ehemaligen DDR als auch im Westen. Immer noch wird es amorph mit Rückwärtsgewandtheit, Ewiggestrigkeit, Revanchismus, oder noch amorpher mit irgendetwas gar nicht genau Bekanntem, aber enorm Verstaubtem in Verbindung gebracht. Die Querelen um das Sichtbare Zeichen, um das Zentrum gegen Vertreibungen zeugen davon. Und gar noch zweite Generation von Vertriebenen – das klingt ja nachgerade so, als sollte es nie aufhören! Am besten gar dritte und vierte Generation, um künstlich etwas wachzuhalten, das längst erledigt ist oder sein sollte. Gras muss über die unliebsame Sache wachsen, wachsen und weiterwachsen. Es ist doch längst gewachsen, meinen viele.
In Deutschland ist man sehr offen. Das Interesse an anderen Kulturkreisen, anderen Gewohnheiten und Gebräuchen, anderen Speisen, Sprachen und Religionen, sogar an anderen Kriegen und Vertreibungen ist ungewöhnlich groß. Nicht umsonst gehören die Deutschen immer noch zu den Spitzenreitern des weltweiten Reiseverkehrs. Sie sind Meister der Übersprungshandlungen. Sie können sich kopfüber auf etwas Fremdes einlassen und vor lauter Enthusiasmus das Eigene vergessen. Und nicht erst seit den dunkelsten Verwerfungen der jüngeren deutschen Geschichte. Schon vorher, im 19. Jahrhundert beispielsweise, konnten sich die deutschen Einwanderer in Amerika besonders schnell anpassen, ihre Eigenheiten hinter sich lassen, sie konnten sich, also ihre Ecken und Kanten, ihre Speisen und Dialekte, ihre Religionen und Gewohnheiten ins große Ganze einschmelzen. Das kann eine besondere Fähigkeit, ein Gabe sein. Es kann aber auch etwas auf der Strecke bleiben.

Das Eigene – was ist das? Bevor man an die Nationalgeschichte oder an regionale Prägungen denkt, ist es die Geschichte der Eltern oder der Großeltern, die zum Eigenen werden kann, denn das ist ja die erste Zeitgeschichte, von der ein junger Mensch erfährt, die ihn vielleicht zu fesseln vermag, die nie ganz privat ist, sondern immer auch kollektive Erfahrungen transportiert. Mancher inkorporiert die Geschichte seiner Eltern als sein Eignes, mancher scheidet sie wieder aus. Das ist auch abhängig von den Konjunkturen der jeweiligen Zeitstimmung, von den Haussen und Baissen, die derlei Geschichten als wertvoll nach oben oder als wertlos nach unten steigen lassen. Was zählt, lässt sich leichter aufnehmen, was nicht zählt, lässt sich leichter ausscheiden, abspalten, mit einem Bann belegen. In der Bundesrepublik der siebziger, achtziger Jahre standen die Aktien schlecht für die Geschichten der Eltern. Das hatte den Grund darin, dass die Bundesrepublik sich in dieser Zeit mit der eigenen Schuld, mit der Shoah auseinanderzusetzen begann. Daran gemessen waren die Geschichten der Eltern und Großeltern klein und tendenziell unter den Generalverdacht der nationalsozialistischen Verstrickung gestellt. Im Zweifelsfall waren sie korrumpiert.
Immer wieder berichten Israelis und Juden aus anderen Ländern von dem Drang vieler aufgeschlossener junger Deutscher zu dieser Zeit, durch Übersprungshandlungen die besseren Juden sein zu wollen, sich mit den Opfern, nicht mit den Tätern zu identifizieren, was die echten Juden verwunderte. Denn so leicht lässt sich der eigenen Geschichte nicht entfliehen, der eigenen Familie nicht entkommen.